Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
ändern.
»Schick es mir mit der Post zu, und gut ist«, raunzte ich zurück. »Was hast du an einem Freitag um ein Uhr siebenundzwanzig in einer Straße namens ›Junggesellenstraße‹ zu suchen?«, ereiferte sich die Frau am anderen Ende der Leitung. Doch das war nur der Anfang. »Haste dich schön durchvögeln lassen, ja? Du bist das Letzte. Du bist derartig unzufrieden mit deinem Leben, mit deinem Scheißgaul. Du musst dich gar nicht wundern, dass dich seit zweieinhalb Jahren kein Mann mehr anpackt. Hörst du? Wann lernst du endlich, mit deinem Leben zufrieden zu sein? Dein Alter, der hat das bis zum heutigen Tag nicht gelernt. Und diese Scheiße mit deinem Alfons. Das kannst du doch wohl wirklich nicht als Beziehung bezeichnen. Den hast du ausgesaugt und dann fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Wenn ich so einen Mist schon höre. ›Ich klammere nicht bei einem Mann.‹ Das zeigt doch nur, dass du ein widerwärtiger Egoist bist. Dass du gleichgültig deinen Männern gegenüber bist. Du kotzt mich an. Du nutzt Gott und die Welt nur aus. Du nutzt deine Weiber aus der Polizeischule aus, weil die dich bewundern und für deine Disko-Eskapaden zur Verfügung stehen. Und wenn die Phase dann vorbei ist, dann schießt du die auch wieder ab. Anstatt samstagabends in der Disco herumzuflippen, hättest du ganz andere moralische Verpflichtungen. Tickst du noch ganz sauber? Du bist so krank! Wer mit dreißig noch in die Disco geht, ist verhaltensgestört! Jaaaa! Verhaltensgestört!«
Die Frau am anderen Ende der Leitung tobte und tobte. Ich hielt den Hörer unverändert ans Ohr, war unfähig, aufzulegen. In mir zerbrach etwas. In mir starb etwas. Ich wusste nicht, was es war, aber es zog mir den Boden unter den Füßen weg.
»Seitdem du Arschloch wieder in mein Leben getreten bist, sitze ich jeden beschissenen Tag auf heißen Kohlen. Ständig habe ich das Gefühl, dass du sowieso wieder alles hinschmeißt! Du wirst wieder die Ausbildung abbrechen! Es geht wieder alles den Bach runter. Du musst auch mal Opfer bringen, hörst du? Dein dämlicher Spruch, du wärest nicht bei der Caritas oder als Mutter Theresa geboren, zeugt doch davon, wes Geistes Kind du bist!«
Die Rage der Frau nahm kein Ende. Zwischenzeitlich fragte ich mich, ob ich wirklich eine Frauenstimme hörte. War das nicht Jürgen? Nein. Es war meine Mutter. Meine eigene Mutter, die mich anschrie und beleidigte und damit nicht enden wollte. Es musste doch mal aufhören, oder? Irgendwann ist man doch fertig mit seinem ganzen Hass und seiner ganzen Wut. Oder? Irgendwann sind doch alle Emotionen abgelassen, und dann kann man doch in Ruhe sprechen? Irgendwann ...
»... hast den Arsch offen, in Kneipen rumzuhängen. Guck deinem Gaul lieber einmal mehr in den Hintern, oder bleib mit deinem Hintern zu Hause! Jetzt hast du alles, was du brauchst! Und jetzt zeigt mein Töchterchen ihr wahres Gesicht. Du kommst höchstens mal vorbeigeschneit, hast nie Zeit, glotzt ständig auf die Uhr, und dann kassierst du deine Kohle und entfleuchst wieder! Du kotzt mich an! Im Sommer hast du noch so getan, als sei alles in bester Ordnung, und ich hatte gehofft, meine Scheißtochter sei endlich erwachsen geworden, und was ist? Ich habe eine Pubertierende vor mir! Eine Pubertierende!« Ihre Stimme überschlug sich.
»Halt endlich deine dumme Schnauze!«, schrie ich aus Leibeskräften plötzlich in den Hörer. Ich schrie so laut, dass es den Hörer bald sprengte. Noch nie, noch nie in meinem Leben hatte ich mich selbst so laut schreien gehört. Da war sie wieder. Diese unglaubliche Wut. Das Raubtier war erwacht! Hätte diese Frau vor mir gestanden, ich hätte mich vergessen. »Halt verdammt noch mal deine dreckige Schnauze! Für immer! Für iiiimmmmmmeeeeer!« Ich drehte völlig durch. Mein Puls raste. Mein Herz schlug wie wild. Kalter Schweiß lief mir den Rücken runter. Ich war wahnsinnig geworden. Diese Frau hatte mich tatsächlich in den Wahnsinn getrieben. Mit aller Macht schmiss ich den Hörer auf die Station. Ich riss das Kabel aus der Wand.
Eine beängstigende Stille kehrte ein. Es war entsetzlich still. Mein Herz raste immer noch. Und es kam, was kommen musste: ein unglaublicher Schmerz, der mich fast zerriss, rollte unaufhaltsam aus dem dunklen Verlies nach oben. Ich wurde wahnsinnig vor Schmerzen. Ich hielt diesen Schmerz nicht aus. Ich packte meinen Kopf zwischen meine Hände und schrie und schrie: »Neeeeeiiiiiinn!« Immer wieder. Immer wieder. Immer wieder. Es
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