Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
schon spät in der Nacht, als Felix mich nach Hause brachte. Er wohnte mit seinen Ende zwanzig noch bei seinen Eltern. Für mich völlig unverständlich und unvorstellbar.
»Warum hätte ich ausziehen sollen, Christine?«, erläuterte er mir. »Ich war nach dem Abi bei der Bundeswehr, habe dann ganz in der Nähe studiert und hatte meine Pferde bei meinen Eltern im Stall. Und jetzt bin ich unter der Woche in Berlin.«
Heile Welt! So musste sie aussehen, die heile Welt! Ich hatte einen Mann kennen gelernt, der vollkommen anders aufgewachsen war als ich. Immer behütet. Immer umsorgt. Immer geliebt. Was wusste dieser Mann von existentiellen Ängsten? Kannte dieser Mann das Gefühl, mutterseelenallein für sich selbst Verantwortung zu tragen? Kannte Felix den Zustand, ohne Familie, ohne Rückhalt, ohne Unterstützung, ohne Heimat, ohne Wurzeln durch das Leben zu flüchten? Nichts davon kannte er, und nichts davon KONNTE er kennen.
Mein Lebenstempo glich dem Tempo, das nur Flüchtende an den Tag legen können. Es ist das Tempo der Menschen, die vor sich selbst und vor den Erinnerungen fliehen. Beseelt von einer inneren Unruhe. Die Unruhe, die Rastlosigkeit, die ihren Nährboden in der Angst ums Überleben findet. Meine Voraussicht, mein Gespür für Disharmonie, mein permanentes Denken, alles zu tun, um geliebt zu werden, mein Fanatismus für Ordnung und Sauberkeit, mein Bedürfnis nach Sicherheit und Transparenz, nach Kalkulierbarem, nach Offensichtlichkeit und der totalen Ehrlichkeit. All das war diesem Mann so fremd, als spräche ich eine völlig andere Sprache! Er wusste nicht, auf was er sich eingelassen hatte, wer ich war und woher ich kam. Er hatte nicht MEIN Leben gelebt.
In seinen Augen sah ich die Güte meiner Großmutter. Das Stückchen heile Welt, das Omi mir gegeben hatte. Omi hatte mich verwöhnt. Omi hatte sich um mich gekümmert. Omi war immer an allem interessiert. Ihr Todestag jährte sich zum zehnten Male, als Felix und ich uns gerade kennen gelernt hatten. Omi fehlte mir immer noch.
Als Felix mich nach Hause brachte, war ich superaufgeregt. Sogar echte Erregung spürte ich in meinem Körper. Felix hatte auf meinem Sessel in meinem Wohnzimmer Platz genommen und schaute mich einfach nur freundlich an. Ich wusste, was mein Job war. Cool und scheinbar souverän setzte ich mich auf seinen Schoß und begann, ihn zu küssen. Dieser Mann haute mich um. Seine Küsse waren die reinste Freude. Er beherrschte das gesamte Repertoire von zärtlich bis gierig und war immer vorsichtig genug, um keine Grenze zu überschreiten. Wir knutschten uns die Seele aus dem Leib und waren atemlos vor Freude über unser Glück. Ich wollte mehr von Felix. Ich wollte ihn erobern. Ich wollte ihn überzeugen, dass ich die Frau für sein Leben war. Felix war da wesentlich entspannter. Wie ein verliebtes Pärchen standen wir am Türrahmen und konnten so gar nicht voneinander lassen. Schweren Herzens trennten und verabschiedeten wir uns zärtlich.
Als ich am nächsten Tag in den Stall kam, war die Vorfreude auf Felix schon groß. Er begrüßte mich freundlich wie immer, und seine Zurückhaltung ließ mich zweifeln. Dann aber kam er auf mich zu und fragte, ob ich am nächsten Wochenende Zeit hätte. Da stünde ja noch das vereinbarte Essen aus.
»Gerne!«, freute ich mich, »wir können ja zum Italiener gehen«, schlug ich vor.
Felix schaute mich an. »Wenn wir beide essen gehen, dann gehen wir richtig essen!« Ein Satz, der mich zutiefst beeindruckte. Ein Satz, den ich für mich als etwas ganz Besonderes interpretierte.
Ich war froh, dass Felix unter der Woche in Berlin war. Ich hatte ohnehin keine Zeit für eine Beziehung. Felix war kein Mann, der viel telefonierte. Oft wusste ich freitagabends nicht, ob wir uns sehen würden, weil Felix einfach nicht angerufen hatte. Offensichtlich hatte ich noch keinen festen Platz in seinem Leben eingenommen.
Das bedeutete Unsicherheit, und mit Unsicherheit konnte ich nicht umgehen.
Felix hatte für unser erstes Essen ein feudales Restaurant ausgesucht. Ich hatte mich bemüht, mich schick anzuziehen, Felixʼ Geschmack aber nicht wirklich getroffen. Das spürte ich, auch wenn er nichts sagte. Es war Spargelzeit, und wir schlemmten das köstliche Gemüse und redeten und redeten. Als das Restaurant schließen wollte, wurden wir höflichst gebeten, doch bitte die Rechnung zu begleichen. Felix zahlte und wirkte mächtig männlich auf mich. Es waren wundervolle Stunden mit Felix.
Unsere erste
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