Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
Abschied war nicht leicht gefallen. Aber dieser Frau konnte das Mädchen vertrauen. Sie war stark. Sie war zuverlässig. Sie würde wiederkommen. Wenn sie es versprochen hatte, dann würde sie dieses Versprechen auch halten. »Warte« hatte sie gesagt und »Keine Angst. Es dauert nicht lange. Nie wieder musst du so lange warten. Nie wieder. Ich weiß jetzt, wo du die ganzen Jahre warst. Jetzt finde ich dich wieder.«
»Das war ein hartes Stück Arbeit, Frau Birkhoff. Verdammt hart. Aber Sie haben das super gemacht. Wie geht es Ihnen heute?«
»Geht wieder. Danke. Ich habe das Gefühl, dass es schlimmer nicht mehr wird. Der Berg liegt hinter mir. So fühle ich es jedenfalls.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Wir werden jetzt weiterüben. Sie müssen lernen, Ihr kleines Mädchen regelmäßig zu trösten. Und wir müssen ein schönes Plätzchen für Ihr Mädchen finden. Denn eines sage ich Ihnen jetzt schon: Wenn Sie im Prozess sitzen, dann lassen Sie die kleine Christine zu Hause und schließen ausnahmsweise mal die Tür ab. Die Kleine hat im Gerichtssaal nichts zu suchen. Nur Sie alleine. Die erwachsene Christine, okay?«
Heute rüttelt niemand mehr an Gitterstäben. Die kleine Christine hat damals ein neues Zuhause bekommen. Ein richtig schönes Kinderzimmer. Als Felix und ich Mias Zimmer renoviert haben, hatte ich insgeheim das Zimmer der kleinen Christine mittapeziert. Dieselbe niedliche Tapete, wie Mia sie hat. Während der Therapie und noch lange Zeit danach musste ich Christinchen öfters trösten. Musste mit meiner Therapeutin immer wieder zu ihr hingehen und sie in meine Arme schließen. Sie brauchte das. Konnte schwer loslassen. Bis uns beiden die Trennung immer leichter fiel. Mittlerweile will sie das gar nicht mehr so oft. Ganz selten mal, dass ich was von ihr höre. Was sie macht, den ganzen Tag? Hm ... Keine Ahnung ... Vielleicht Gameboy spielen oder fernsehen ... Was Kinder so machen in dem Alter ... Ist auch nicht so wichtig, oder? Sie hat ein schönes, warmes Zuhause, darf ganz nah bei mir wohnen und ist völlig zufrieden mit sich selbst. Richtig autark ist sie geworden. Braucht mich nicht mehr. Wenn sie nicht ruft, dann ist auch alles okay. Ihr Zimmer ist ja gleich nebenan. Das würde ich sofort hören. Damals, im Verlies, da war das anders. Sie findet es völlig in Ordnung, dass ich mich auf Mia konzentriere. Völlig in Ordnung.
Der Mensch meidet von Haus aus, was ihm nicht guttut. Nicht bei allen Dingen, da gebe ich Ihnen Recht. Ich meide immer noch keine Zigaretten. Und weiß genau, dass die Dinger mir nicht guttun. Andere trinken. Schütten sich mit Alkohol zu oder pumpen sich mit Drogen voll. Ich rauche. Das ist meine Sucht. In der Therapie lernte ich, was Traumata sind. Warum sie gefährlich sind. Was sie auslösen können. Mias Geburt löste alle Erinnerungen aus, die ich glaubte, nicht zu haben. Schmerzerinnerungen zum Beispiel. Körperliche Schmerzen. Seelische Schmerzen. Ich mied, was mir nicht guttat. Mia. Ich mied meine eigene Tochter, weil sie Lawinen von Erinnerungen lostrat, die mein Gedächtnis mit gutem Grund verdrängt hatte. Wenn ein Kind, das erst anderthalb ist, realisieren könnte, also richtig begreifen könnte, dass Mama und Papa es gerade totschlagen möchten, dann würde diese Erkenntnis das Kind sicher umbringen. Also wird die Erinnerung in einer hintersten Ecke im Gehirn abgespeichert. Der Weg durch das Bewusstsein, der Weg des Verstehens, wird umgangen. Irgendwo liegt diese Erinnerung. Sie wurde unverarbeitet an einen Platz gelegt, wo sie gar nicht hingehört.
Nach der Therapie hatte ich sehr viel über mich gelernt. Ich wusste eines ganz genau: was mir NICHT guttut. Dazu gehörte Felix. Dazu gehörten meine Schwiegereltern. Dazu gehörte die herrschende familiäre Situation. Und auch die vielen toten Pferde und meine Reiterei. »Sie haben Ihre Kindheitsbühne nachgestellt.« Eine wichtige Erkenntnis während meines Klinikaufenthaltes. Mia gehörte nicht dazu. Mia gehörte zu mir, und ich wollte sie bei mir haben und ihr eine starke Mutter sein. Ich zog aus. Schnell. Sehr schnell. Vier Wochen nach der Therapie saß ich in meiner neuen Wohnung. Felix und ich hatten gestritten und gestritten. Ums Geld. Um die Möbel. Meine Möbel. Wir hatten uns nichts geschenkt. Wir kämpften mit harten Bandagen. Verbissen. Stur. Uneinsichtig. Jeder zutiefst verletzt und seiner Träume beraubt. Ich kämpfte um meine Existenz. Ich wollte nicht schon wieder von vorn anfangen. Nicht schon
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