Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
beschimpft zu werden.
»Bei Carla. Frühstücken.«
Ein wütender Schwall übelster Anfeindungen ergoss sich jetzt auf mein Haupt. Natürlich war das nicht nach ihrem Plan gewesen, dass ich böses Mädchen mir das Hausverbot bei Jürgen zunutze machte, um gemütlich mit meiner Freundin zu frühstücken.
Jürgen schaltete sich ein und teilte mit sonorer und beschwichtigender Stimme mit, dass das Hausverbot nun aufgehoben sei und ich in den »Schoß der Familie« zurückkehren dürfe.
Wir fuhren, wie üblich, mit Ulf und Martin zum Panzerübungsgelände, und ich fragte mich, wie lange ich diesen Wahnsinn noch würde ertragen müssen ...
Mein Leben verlief wie in Trance. Es war wie im Film Und täglich grüßt das Murmeltier . Jürgen schwankte zwischen Liebhaber, Verbündetem, Feind und Diktator hin und her, und ich fühlte mich mehr und mehr wie eine Hülle, die schutzlos durch das Leben wandert. Kurz vor Weihnachten nahm er Ulf und mich mit zu einem Motorradhändler. Jürgen kaufte zwei identische Mofas, zwei silberfarbene Puch Maxi N. Ulf bekam das Mofa zu Weihnachten geschenkt, und mit mir handelte Jürgen einen Deal aus: Würde ich die gesamten Weihnachtsferien in seiner Firma arbeiten, wäre das Mofa abbezahlt, und ich könnte es dann mein Eigen nennen. Natürlich willigte ich ein. Und natürlich verging kaum ein Tag in den Weihnachtsferien, an dem Jürgen mich nicht bedrängte oder gar in seiner Firma beschlief. Irgendwie erschien mir aber alles erträglicher, als zu Hause bei meiner Mutter zu sein. Also flüchtete ich mich in Jürgens Firma und nahm die Übergriffe in Kauf. Es schien der Preis zu sein, den ich für ein halbwegs erträgliches Leben zu bezahlen hatte. Ganz besonders pervers empfand ich es, wenn Jürgen sich die Hose wieder anzog, mich in sein Büro zitierte und ich dort einen gelben »Aushilfsschein« unterschreiben musste. Ich wusste, dass dieser Schein ein Beleg war, mit dem Jürgen beim Finanzamt Kosten für meine »Arbeitskraft« geltend machen konnte. Es war, als würde dieser Mann aus allem und jedem seinen Vorteil ziehen. Zurück blieben praktisch nur wir, die Verlierer.
Ostern hatte ich die Gelegenheit, zu einer Austauschfamilie nach England reisen zu dürfen. Ich hatte keine Ahnung, aus welchem Grund mir eine derartige Fahrt überhaupt gestattet wurde, aber wer hinterfragt schon in einer solchen Situation gewährte Privilegien? England war für mich, für meine Seele keineswegs eine Erholung. Alle aus meiner Gruppe schienen so unbeschwert zu sein, und ich fühlte mich bleiern und schwer. Meine Bulimie hatte meinen Körper vollständig erobert, und meine Gedankenwelt kreiste unentwegt um das Essen. Nachts schlich ich mich heimlich in die Küche meiner Gasteltern und stopfte unzählige Toasts mit Erdnussbutter in mich hinein. Nach drei Tagen und Nächten hatten meine Gasteltern die Nase voll und sperrten die Küchentür ab. In der Familie wurde ich nur the wastebox genannt, weil ich sämtliche Essensreste in mich hineinstopfte. Ich war ein Außenseiter und spürte dies.
Jeden Abend terrorisierte meine Mutter mich und die Gastfamilie zudem mit Anrufen. Meine Gastmutter verlor irgendwann angesichts der zunehmenden Auflagen, die meine Mutter telefonisch erteilte, die Nerven und legte den Hörer einfach auf. » She ʼs completely crazy! «, schrie sie und fragte mich dann: » What the hell is going on with your mother? I cannot stand that woman any more! She ʼs got a real problem! « Damit sagte meine Gastmutter nichts Neues. Mir war das alles nur schrecklich peinlich, und meine Bulimie wurde dadurch auch nicht besser.
Eines Abends waren wir mit unserer Jugendgruppe in einem Center namens Arndale-Youth-Club. Man hatte eine Party für uns arrangiert und eine Menge junger englischer Männer eingeladen. Einer davon beobachtete mich zunächst einige Zeit und kam dann auf mich zu. Er hatte sehr liebe Augen und fragte mich freundlich, ob ich mit ihm tanzen würde. Ein Blues wurde gespielt, und bis zum heutigen Tag erinnere ich mich gern an diesen Tanz. Eine Welle gleich einer Flut von Wärme und Geborgenheit überströmte mich, und ich versank in den Armen von Chris, der mir zärtlich über den Rücken streichelte. Wir tanzten und tanzten, und seine überaus zärtlichen Küsse ließen mich alles um mich herum vergessen. Es war eine wortlose Kommunikation, die aus Blicken, Händchenhalten, Kuscheln und Sichdrücken bestand. Als ich mich von Chris verabschieden musste, war mir schwer ums
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