Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
Herz. Er gab mir einen Zettel mit seiner Anschrift und hauchte mir einen letzten Kuss auf die Lippen. Viele, viele Jahre später freundete ich mich in Hannover mit dem englischen Au-pair-Mädchen einer Bekannten an. Ich erzählte ihr, dass ich als Jugendliche in England gewesen war, und schwärmte ihr von meiner damaligen Bekanntschaft vor. »Chris Wardle aus Liverpool«, seufzte ich hingebungsvoll und lachte sogleich.
» Chris Wardle? «, schrie sie völlig enthusiastisch auf, » Chris Wardle from Liverpool? Oh my God! He was a football player of the British Nationalteam! «
Der zärtliche junge Mann damals im Arndale-Center sollte das spätere Mitglied der englischen Fußballnationalmannschaft gewesen sein? Zehn Jahre nach dieser Begegnung amüsierte mich diese Vorstellung köstlich! Noch lieber jedoch hätte ich David Beckham geküsst...
Als ich aus England zurückkehrte, war ich schier aus allen Nähten geplatzt. Mein Gesicht war aufgedunsen und aufgeschwemmt, und ich fühlte mich wie ein Mastschwein. Meine Mutter begrüßte mich mit den Worten: »Boah, was bist du eine fette Sau geworden!« Als sie dann abends im Bad Schwangerschafts streifen an meiner Hüfte entdeckte, spottete sie voller Häme über mein Äußeres, und meine Verzweiflung wuchs.
Wenig später eröffnete in unserer Stadt das erste Fitness-Studio. Ich wollte auch stählerne Muskeln haben, und so meldete ich mich dort an. Ich trainierte in jeder freien Minute, kotzte noch mehr als zuvor und nahm innerhalb kürzester Zeit fast fünfzehn Kilogramm ab. Der Studiobesitzer fragte mich eines Tages, ob ich nicht stundenweise bei ihm arbeiten wolle, und ich nahm dankend an. Die Arbeit bei Jürgen versuchte ich, so gut ich konnte, auf ein Minimum zu reduzieren. Ihm schien das gleichgültig zu sein, denn mittlerweile war er so dreist geworden, dass er mich morgens vor der Schule zu Hause abfing, wenn meine Mutter vor mir das Haus verlassen hatte. Mit einem siegessicheren Grinsen stand er dann plötzlich bei uns im Hausflur und säuselte mir zu: »Ich weiß, dass du eine Freistunde hast und mit deinen Freundinnen verabredet bist. Wenn du sie nicht warten lassen willst, lass uns schnell ein bisschen bumsen, ja?«
Ob im Bett meiner Mutter oder auf dem Sofa im Wohnzimmer ... es war Jürgen egal. Und mir war ohnehin alles gleichgültig geworden. Diese »Angelegenheit« war eine notwendige Pflichtübung, und ich ertrug sie mit scheinbarer Fassung. Einen Zusammenhang mit meiner Bulimie konnte ich in diesem Alter ohnehin nicht erkennen. Ich empfand mich als unattraktiv, ungeliebt und war ergriffen von der Angst, verrückt zu werden.
Die Stunden im Fitnesscenter taten mir gut. Reinhold, der Studiobesitzer, hielt mir Vorträge über Ernährung und körperliche Fitness, und nur dort beim Training hatte ich das Gefühl, meinen Körper zu spüren. Ich spürte, wie die Kraft der Gewichte an meinen Muskeln zerrte, und konnte praktisch zusehen, wie sich mein Körper durch das regelmäßige Training vorteilhaft formte. Rückblickend betrachtet muss ich damals tatsächlich eine fantastische Figur gehabt haben. Regelmäßig trainierte ich fortan die Frauen und erklärte die einzelnen Geräte und die notwendigen Trainingsfrequenzen für die einzelnen Muskelpartien. Reinhold war zufrieden mit meiner Arbeit und bezahlte sehr gut. Das Fitnessstudio wurde zu einem Ort der Erholung für mich: Die hartgesottenen Männer dort mochten mich sehr und schätzten mich als eine, die fleißig trainierte und zuverlässig war. Stets wurde ich mit einem freudigen Lächeln begrüßt, es herrschte eine Atmosphäre wie in einem Trucker-Lokal. Sätze wie »Unsere Kleine ist Gold wert« und »Pack unser Mädchen nicht an« waren zu hören. Ich fühlte mich beschützt und geachtet. Ich galt als jemand, und dieser Ort voller Eisen und Schweiß war tabu für Jürgen und mein restliches Leben.
Es war kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag, als ich urplötzlich bei einem Telefonat einen Bandscheibenvorfall erlitt. Ich musste niesen und konnte mich dann nicht mehr bewegen. Meine Mutter musste mich wohl oder übel zu einem Arzt fahren, der mich mit Spritzen und künstlich erzeugten Blutergüssen (Schröpfen) wieder auf die Beine stellte. Heute glaube ich, dass nicht das Training im Studio der Grund für diesen Bandscheibenvorfall war, sondern dass mir der Druck, der psychisch auf meinen Schultern lastete, förmlich die Beine wegriss. Hinzu kam erschwerend, dass mein Bett keinen Lattenrost hatte,
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