Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
Du hast hier dein Zimmer, verdienst nebenbei gutes Geld und überhaupt, was willst du denn mit Bobby machen? Du willst doch wohl den Hund nicht im Stich lassen, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich, »eigentlich wollte ich Bobby mit nach Hamburg nehmen, weil ich gehört habe, dass es da oben im Norden sehr schön sein soll.«
Jürgen schnaubte verächtlich und moralisierte über die Reeperbahn, die Davidswache und die Huren und Zuhälter, schob die enorme Kriminalität und das verkommene Nachtleben nach und beendete seine Andacht mit den Worten: »Das fehlte mir noch, Christine, dass du auf die schiefe Bahn gerätst und in Hamburg unkontrolliert durch die Nächte flippst!«
Meine Mutter, die in ihrem ganzen Leben noch nicht in Hamburg gewesen war, nickte mal wieder devot und warf mir hasserfüllte Blicke zu. Meine Mutter, das leuchtete mir ein, würde freiwillig niemals auf ihre Putzfrau Christine verzichten wollen.
In den darauf folgenden Wochen quetschte ich jeden Tag meine dünnen Finger von außen durch den Briefkastenschlitz und kontrollierte die Post. Irgendwann hatte ich dann endlich das Schreiben herausgefischt, auf das ich gewartet hatte und von dem Jürgen und meine Mutter nichts erfahren durften. Es war das Antwortschreiben vom Max-Reinhard-Seminar in Österreich, und als ich las, dass ich tatsächlich einen Termin im Herbst bekommen hatte, um dort vorstellig zu werden, brach innerlich meine kleine Welt zusammen. Wenn schon die bloße Idee, Fremdsprachenkorrespondentin in Hamburg zu werden, bei Jürgen und meiner Mutter auf völlige Verständnislosigkeit stieß, dann konnte eine bereits abgeschickte Bewerbung zur Schauspielschule nach Wien nur den völligen GAU bedeuten. Wie sollte ich mit knapp fünfzehn Jahren heimlich nach Wien fahren, ohne dem sicheren Krankenhausaufenthalt nach meiner Rückkehr zu entgehen? Es lag auf der Hand, dass meine Mutter vollkommen durchdrehen würde, wenn ich dann nach Hause zurückkäme. Ich war schließlich minderjährig, und, Schauspielschule hin oder her, die nächsten drei Jahre würde mich jede Polizei dieser Welt wieder zurückschleifen, wo ich hergekommen war. Die Hoffnung, vorzeitig aus meinem Gefängnis entkommen zu können, bröckelte mehr und mehr.
Ich wollte weg von Jürgen, weg von meiner Mutter und weg aus dieser Stadt. Die Sommerferien standen bevor, und Jürgen hatte dieses Jahr vor, mit Ulf, Martin, meiner Mutter und mir nach Spanien zu fahren. Mir graute es vor diesem Urlaub, und ich wäre gern mit Dana und ihren Eltern nach Korsika gefahren. Auch Anka hatte mich angesprochen, ob ich die Sommerferien nicht mit ihr verbringen wollte, denn ihre Mutter hatte ihr Reiterferien auf einem Bauernhof in der Lüneburger Heide für zwei Wochen gebucht. Ich schwärmte von der Lüneburger Heide und stellte mir die mit Heidekraut üppig bewachsenen weiten Flächen in meinem Geiste vor. Die tiefen, dunklen Tannenwälder meiner Heimatregion machten mir Angst. Nie konnte man nach vorne schauen, ohne dass nicht große Berge vor einem auftauchten, und alles erschien mir so unsicher. Hinter jedem Baum vermutete ich Bedrohliches, und ich wünschte mir eine Landschaft, in der man schauen konnte, so weit das Auge reichte. Es musste traumhaft schön sein in der Lüneburger Heide, und in mein Tagebuch schrieb ich damals: »Wenn ich später groß bin und mein eigenes Geld verdiene, dann möchte ich in der Lüneburger Heide wohnen, einen schwarzen Hengst besitzen und mit meinem Hund über die Felder laufen.«
Was mir damals als Traum erschien, war zwölf Jahre später Realität geworden, aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
Es war völlig aussichtslos, Jürgen und meine Mutter zu fragen, ob ich meine Ferien mit Dana oder Anka verbringen durfte. Ulf und Martin fanden es unglaublich spannend, mit dem Auto in den Süden zu fahren, und Jürgen schwärmte uns vor, wie toll und romantisch es werden würde, in Südfrankreich zu zelten und am Lagerfeuer zu sitzen.
Diese Reise nach Spanien war die reinste Katastrophe. Zusammengepfercht saßen wir zu dritt hinten im neuen Lada-Niva, den Jürgen ursprünglich für die Geländefahrten gekauft hatte. Meine Mutter hatte sich schon gleich auf dem ersten Rastplatz mit Martin angelegt, der ihr wie so oft einen seiner berühmten Eifersuchtsauftritte hingelegt hatte. Mich quälten ständige Darmkrämpfe, weil die Abführmittel nicht wie erwartet einen Tag vor der Abreise gewirkt hatten, sondern genau am
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