Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
wieder.« Tränen flossen unaufhaltsam über mein Gesicht.
Oma sagte gar nichts. Sie saß starr da und schaute zum Fenster hinaus. Dann verlor auch sie die Fassung und weinte hemmungslos. Nach einigen Minuten nahm sie mein Gesicht in ihre alten faltigen Hände. »Sieh mich an, Christine. Sieh mich an! Ich bin eine alte Frau. Ich habe mein Leben gelebt, und ich würde es kein zweites Mal SO leben. Wenn du nach Afrika gehen musst, um deinen Frieden zu finden, dann musst du nach Afrika gehen. Verstehst du mich? Du MUSST!«
Ich weinte und weinte und fühlte mich jämmerlich. Ich ließ meine Oma in dieser Stadt zurück. Ich war alles, was sie hatte, und ich fühlte mich schrecklich undankbar. »Was ist mit dir, Oma?«, fragte ich tränenüberströmt. »Ich kann dich doch nicht einfach so im Stich lassen ...«
Oma streichelte über meinen Kopf, und minutenlang sagten wir beide kein Wort, sondern ließen unseren Tränen freien Lauf. Dann beendete Oma das Schweigen.
»So, und nun stehst du auf und erledigst die Dinge, die du noch vor deiner Abreise erledigen musst. Alles, was du nicht brauchst, kannst du bei mir unterstellen.«
Sanft und resolut schob sie meinen Kopf von ihrem Schoß und stand auf. »Und wenn du dann fliegst, mache ich dir vorher noch dein Lieblingsessen, paniertes Schnitzel mit Rosenkohl. Jetzt mach voran.«
Ich hatte noch drei Tage bis zum Abflug und verschenkte in dieser Zeit mein gesamtes bescheidenes Mobiliar. Meine Motorradkluft, meine Plattensammlung, die vielen Fotoalben und meine Hi-Fi-Anlage schleppte ich zu Oma. Irgendwann würde ich alle diese Sachen wieder bei ihr abholen. Kein einziges Teil dieser persönlichen Gegenstände habe ich jemals wieder zu Gesicht bekommen. Meine Mutter versuchte mir drei Jahre später allen Ernstes weiszumachen, dass sie alle diese Sachen im Hause meiner Großmutter nicht gefunden habe. Insbesondere der Verlust meiner Fotoalben liegt mir noch heute im Magen. Es war und es ist, als hätte jemand versucht, achtzehn Jahre meines Lebens für immer auszuradieren. Was ich damals zum Glück in meinen Armeeseesack stopfte, waren meine Tagebücher und die Bilder von meinen Freundinnen aus meiner Schulzeit. Dana, Anka, Gitta und Carla ... Wie würde ich sie alle vermissen. Dana studierte in Aachen Germanistik und hatte mit dem Studium, ihrer ersten Tochter und ihrem Leben in Zweisamkeit genug um die Ohren, aber für ein Telefonat oder einen Besuch hatte sie sich immer Zeit genommen. Auch heute, mit nunmehr vier Kindern, einem Job als Physiotherapeutin und einem Riesenhaushalt ist sie für uns alle immer noch eine fantastische Gastgeberin. Diese Gabe hat sie sich in all den Jahren erhalten. Anka studierte in Ruhrstadt und lebte in einer Studentenbude, die ihre Mutter für sie bezahlte. Auch Anka blieb eine treue Freundin bis in die Gegenwart. Sie ist Sonderschulpädagogin, hat zwei Kinder und führt von uns allen das finanziell sorgenfreiste Leben. Gitta hatte die Stufe dreizehn noch mal gemacht, weil auch sie durchs Abi geflogen war. Gleichzeitig hatte sie mit ihrer Schwangerschaft Probleme, denn ihre Eltern und auch sie selbst waren wenig begeistert davon. Mit derselben Konsequenz, mit der Gitta ihre Schwangerschaft, ihr Abitur, ihre Lehre und später ihre Ausbildung bei der Polizei absolvierte, ging sie auch mit unserer Freundschaft um. Gitta ist heute von allen Freundinnen meine ehrlichste und intimste Freundin. Carla war zum damaligen Zeitpunkt nach Berlin zurückgekehrt und hatte einen Fahrradladen aufgemacht. Die hübscheste von uns allen und die, deren Leben immer so unbeschwert wirkte, hatte Mitte dreißig einen psychischen Totalzusammenbruch, und erst 2004 erfuhr ich, dass wir eine Gemeinsamkeit hatten: Wir beide kannten die Begrifflichkeit »posttraumatisches Belastungssyndrom« zur Genüge, und als Carla sich bei uns in der Küche outete, lagen wir uns als erwachsene Frauen weinend in den Armen.
Meine Freundinnen waren wie Schwestern für mich. Ich verabschiedete mich von allen per Telefon, denn die Zeit reichte für Besuche nicht mehr aus. Dass wir trotz aller räumlichen Distanz immer noch so eng miteinander verbunden sind, fand seinen Ursprung in den Jahren vor dem Abitur. Bis dahin waren wir bereits acht Jahre geradezu unzertrennlich, und wir alle hatten eine wichtige Gemeinsamkeit: Keine von uns machte aus ihrem Herzen eine Mördergrube, und die Gespräche, die wir führten, waren selten oberflächlich. Wir alle lachten gern und genossen das Gefühl,
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