Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
einfach SO sein zu dürfen, wie wir waren und wie es uns die Natur charakterlich mit auf den Weg gegeben hatte. Erst viele Jahre später begriffen wir, dass jede Einzelne von uns eine weitere wichtige Gemeinsamkeit verband: So nett und bemüht die anderen Eltern auch waren, auch meine Freundinnen durften ihre wahren Schwächen und Gefühle nie wirklich zeigen. Wir alle mussten zu Hause schauspielern, weil wir unseren Eltern gefallen wollten, und nur innerhalb unserer eigenen Gemeinschaft sprachen wir über unsere tiefsten Geheimnisse und Gefühle. So etwas verbindet immens.
Als der Tag der Abreise gekommen war, verabschiedete ich mich von Oma. Sie drängte mich dazu, meine Mutter anzurufen, weil sie diese undankbare Aufgabe nicht übernehmen wollte. Das verstand ich zu gut, und ich wollte vermeiden, dass meine Mutter eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgab (obwohl ich mich ernsthaft frage, ob sie das tatsächlich getan hätte ...). Wiederwillig rief ich bei ihr an. Ich hatte gerade gesagt: »Ich binʼs, Christine«, da schrie sie schon durch den Hörer: »Bist du eigentlich total übergeschnappt? Tickst du noch ganz sauber? Was fällt dir ein, deine Lehre hinzuschmeißen?« Ihr geheimer Draht zur Bank hatte mal wieder prächtig funktioniert.
»Ich habe gekündigt, weil ich nach Afrika fliege und nicht mehr wiederkomme. Dann bist du mich endlich los!«, schnauzte ich zurück.
Für eine Sekunde herrschte Sprachlosigkeit am anderen Ende der Leitung. Dann hatte sich meine Mutter wieder gesammelt und zum finalen Schuss angesetzt.
»Ich wünschte, du wärest tot. Das wäre einfacher für mich, du Arschloch! Und noch eins sage ich dir! Den Jürgen, den kotzt du mit deiner ganzen Art genauso an wie mich!«
»Aber das hat deinen Jürgen nicht daran gehindert, mich jahrelang zu vergewaltigen!«, schrie ich wie von Sinnen in den Hörer. Die Begrifflichkeit »sexueller Missbrauch« war mir damals noch nicht geläufig. Dass eine Vergewaltigung durch physische Gewalt gekennzeichnet ist im Gegensatz zu einem sexuellen Missbrauch, war in diesen Jahren noch nicht einmal gesetzesmäßig erfasst, geschweige denn in der Öffentlichkeit Thema. Für mich waren Jürgens wiederholte Übergriffe Vergewaltigung, und so drückte ich es meiner Mutter gegenüber auch aus.
»Ach«, antwortete sie. »Und das hast du nicht verhindern können? Du armes Kind. Ich sage dir etwas: Wenn du meinst, du musst mit Jürgen vögeln, dann ist das dein Problem und nicht meins. Aber der Kenner genießt und schweigt. Und du bist damit hausieren gegangen. DAS nehme ich dir übel. Dass du dich benimmst wie die Bild -Zeitung.«
Ihre Antwort ließ mich, wie so oft in der Vergangenheit, kommentarlos den Hörer auflegen. Diese erniedrigenden Bosheiten setzen mich auch nach Jahren immer noch schachmatt.
Zum Glück hatte ich Omas liebevoll zubereite Mahlzeit schon gegessen, denn nach diesem Telefonat war mir der Appetit wahrlich vergangen. Oma schüttelte nur noch den Kopf. Wir saßen am Küchentisch, und Trauer zeichnete sich in ihren Augen ab.
»Weißt du, Christinchen, einige Dinge habe ich nur erahnen können. Ich verstehe auch sehr gut, dass du mir nicht immer alles erzählt hast. Aber eines möchte ich dir sagen: Wenn ich das Geld gehabt hätte, dann hätte ich das genommen, damit du mit deinen Sorgen zu einem Psychologen hättest gehen können.«
Mir klappte der Unterkiefer runter. Seit Jahren schon hatte ich den Gedanken, eine Therapie zu machen, denn in der Presse las man sehr viel darüber, dass Menschen in einer Therapie geholfen werden konnte. Aber eine Psychotherapie war Mitte der achtziger Jahre noch etwas sehr Kostspieliges, und öffentlich war es besser, solche Gedanken nicht laut auszusprechen.
Die meisten Menschen verbanden damit damals eher den Begriff »Klapsmühle«. Dass aber meine siebzigjährige Großmutter die gleichen Gedanken hatte wie ich, rührte mich zutiefst. Sie war eine weise und kluge Frau, aber irgendwie hatte ich stets das Gefühl, dass ihre Weisheit bitter bezahlt war. Ich sollte eines Tages schmerzlich feststellen, dass ich mit diesem Gefühl vollkommen richtiggelegen hatte. Und hätte meine Großmutter eine Therapie machen können, dann wäre meine Mutter lange nicht so krank, wie sie es damals schon war.
Es war Zeit zu gehen. Ich musste den Zug nach Frankfurt erreichen, sonst würde der Flieger nach Dakar/Senegal ohne mich abheben.
»Mein liebes Christinchen«, flüsterte mir Oma ins Ohr, als wir uns zum Abschied
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