Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
dass Timo Bauingenieur war und auf einer Großbaustelle in Mali in Westafrika arbeitete. Er hatte jetzt vier Wochen Urlaub, und da seine Freundin ihn betrogen hatte, war er nun wieder Single. In den darauf folgenden Wochen verbrachten Timo und ich jede freie Minute miteinander. Ich absolvierte mein übliches Sexprogramm mit ihm, und Timo schien völlig verzückt zu sein, dass ich niemals nein sagte. Für mich war es selbstverständlich, dass Sex der Preis für Nähe und Geborgenheit war, und ich bezahlte so gesehen selbstredend. Als Timo nach drei Wochen wieder zurückfliegen musste, überreichte er mir seine Haustürschlüssel. Timo hatte eine schicke, teuer eingerichtete Erdgeschoss-Eigentumswohnung mit Garten, und er fuhr eine schwarze Corvette.
»Der Autoschlüssel hängt mit am Schlüsselbund. Du kannst bei mir wohnen und jederzeit das Auto benutzen. Wenn du Urlaub bekommst, dann musst du unbedingt nach Afrika kommen. Ich schicke dir dann das Flugticket, okay?«
Ich war beeindruckt. Ich mochte Timo sehr und schätzte diese Großzügigkeit an ihm. Niemals aber wäre ich in seine Wohnung gezogen oder hätte sein Auto aus der Tiefgarage geholt. Ich war Geschenke nicht gewohnt und konnte in keiner Weise damit umgehen.
Als Timo fort war, kehrte die Sinnlosigkeit in mein Leben zurück. Niemand in der Bank hatte verstanden, warum ich den Termin in Frankfurt abgesagt hatte, und mich selbst interessierte mein berufliches Weiterkommen nicht mehr. Auch in der Berufsschule zeigte ich im Unterricht mein Desinteresse, und im Rechnungswesen verstand ich bald schon kein einziges Wort mehr.
Dann stand Silvester vor der Tür, und ich wusste nicht, wie ich diese Nacht verbringen sollte. Von einem Auszubildenden besorgte ich mir einen fertig gedrehten Joint und kaufte mir eine Flasche Baileyʼs. Mein Leben lang hatte ich um Drogen einen Riesenbogen gemacht und daher beschlossen, dieses Silvester wenigstens einen Joint auszuprobieren. Ich saß auf meinem Sofa, rauchte dieses komische Zeug und schüttete den Baileyʼs in mich hinein. Meine Stimmung wurde immer düsterer, und meine Seele wurde hinabgezogen in die dunklen Höhlen der Verzweiflung. Ich begann zu weinen und trank die ganze Flasche aus. Noch vor Mitternacht wurde mir unglaublich schlecht, und ich hatte das Gefühl, in einem unkontrolliert rasenden Karussell zu sitzen. Alles drehte sich in einer unglaublichen Geschwindigkeit, und mein Mageninhalt entleerte sich, noch bevor ich überhaupt ansatzweise die Toilette erreicht hatte.
Als Bulimikerin ist man es gewohnt, sich zu übergeben. Was mir aber in dieser Silvesternacht von 1984 auf 1985 wiederfuhr, war der reinste Höllentrip. Obwohl ich nur noch Galle kotzte, hörte dieser Schwindel nicht auf, und das Gefühl der Übelkeit steigerte sich ins Unerträgliche. Gleichzeitig versagte mein Schließmuskel, und ich ließ alles nur noch unter mich gehen. Alles andere war zwecklos. Ich hätte ohnehin nicht gewusst, welchen Körperteil ich zuerst über die Schüssel hängen sollte. Als der Albtraum dem Ende entgegenging, war es fünf Uhr morgens. Mein Neujahrstag bestand aus einer nicht enden wollenden Dusche und einem ausgiebigen Hausputz. Den restlichen Tag habe ich komplett verschlafen, so fertig war ich. Mein Vorsatz für das neue Jahr stand fest: Nie wieder würde ich Drogen anfassen.
Am Abend rief Timo aus Afrika an. Ich erzählte ihm, dass ich in zwei Wochen Urlaub bekommen würde, und Timo versprach, das Flugticket zu schicken. Als ich tatsächlich zehn Tage später das Flugticket in meinen Händen hielt, ging ich zu meinem Personalleiter und kündigte. Mein Chef schaute mich an, als sei ich mindestens das siebte, wenn nicht sogar das achte Weltwunder, als ich ihm mitteilte, dass ich nach Afrika gehen würde und daher meine Lehre nicht würde beenden können. Er wünschte mir zum Abschied viel Glück, und sein Gesicht bestand aus einem einzigen Fragezeichen.
Als ich bei Oma war, wurde mir sehr schwer ums Herz. Ich brachte es kaum über die Lippen, ihr mitzuteilen, dass ich nicht vorhatte, aus Afrika zurückzukehren. Sie saß in ihrem Sessel, schaute mich prüfend an und sagte: »Christinchen. Irgendetwas bedrückt dich doch! Nun sag schon, was los ist!«
Ich kniete mich vor ihren Sessel, legte meinen Kopf auf ihre Beine und schluchzte los. »Oma. Ich kann nicht mehr. Ich will hier nicht mehr bleiben. Ich werde verrückt in dieser Stadt, und ich muss weg von Mama und Jürgen. Ich gehe nach Afrika, und ich komme nicht
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