Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss
dagegen. Das obere Stockwerk war voller Schatten, als ob irgendwas sie alle an eine Stelle gedrängt und mit einer unsichtbaren Kette festgebunden hätte.
Ich hatte das beklemmende Gefühl, dass irgendwas da oben auf der Treppe lag, genau auf dem obersten Absatz.
Nub starrte hoch. Ich sah, dass sich ihm die Nackenhaare sträubten wie die Nadeln eines Stachelschweins. Angestrengt versuchte ich, irgendwas zu erkennen, aber ich konnte weder etwas sehen noch etwas hören.
Dann fuhr ein Schatten über die Wand, dessen Umriss wie eine Halloweenhexe aussah, und verschwand.
Da hatte ich genug. Leise rief ich nach Nub, und wir machten uns ganz schnell aus dem Staub. Draußen war es kühl. Regen hing in der Luft. Das spülte mir den Gestank von Schimmel und Ratten und mein Unbehagen aus dem Kopf. Den Schatten tat ich als optische Täuschung ab.
Ich stieg auf mein Fahrrad. Unter dieser dunklen Wolke, Regenduft in der Nase, trat ich in die Pedale; neben mir rannte Nub den Hügel hinunter, und seine Zunge hing ihm heraus wie eine kleine rosa Socke.
Den Fahrtwind im Haar, raste ich abwärts, Regentropfen klatschten mir ins Gesicht, und je weiter ich den Hügel runterfuhr, desto schneller wurde ich. Plötzlich kam der Highway vor mir bedrohlich näher.
Ich stieg mit aller Kraft in die Eisen, aber die Rücktrittbremse an meinem schweren J. C. Higgins -Rad nützte nicht viel. Die Reifen rutschten über die feuchte Straße, das ganze Fahrrad drehte sich seitwärts, kippte um, und ich schlug mit einem Bein hart auf den Beton.
Und schlitterte mitten auf den Highway. Dann hörte ich ein Tuten, so laut, dass sich mir die Haare sträubten. Ich sah den Kühlergrill eines mächtig großen Mack -Trucks auf mich zukommen und begriff sofort, dass ich höchstwahrscheinlich unsere Privatvorführung von Vertigo verpassen würde – und ebenso alles andere, was nach dem nächsten Augenblick geschehen würde.
In diesem Moment empfand ich weder Angst noch Bedauern, nur Resignation.
Während ich immer noch weiterrutschte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Nub zwischen mich und den Lastwagen lief. Noch einmal ertönte die Hupe, dann erwischte es mich.
TEIL II
BUSTER ABBOT LIGHTHORSE SMITH
6
Hast Glück gehabt«, meinte Richard.
Seit dem Unfall waren drei Tage vergangen. Richard Chapman saß auf einem Stuhl neben meinem Bett und kritzelte mit einem Bleistiftstummel, den er immer wieder mit der Zungenspitze anfeuchtete, seinen Namen auf den Gips an meinem linken Bein. Er schrieb langsam und konzentriert, und die Mine war so feucht, dass sie schmierte.
»Das hält bestimmt nicht lange«, sagte ich.
»Dann mach ich’s noch mal«, antwortete er. »Und zwar mit Tinte.« Beim Schreiben beugte er sich tief über den Gips, sodass seine langen braunen Strähnen ihm fast bis ans Kinn hingen. Mit gekrauster Schnauze schnüffelte Nub, der neben mir lag, an den fettigen Haarspitzen, die über meinem Bein baumelten. Wenn ein Hund, der sich ununterbrochen über den Hintern leckte, am Geruch von Richards Haaren Anstoß nahm, dann waren die Zotteln meines Freundes wohl schon jenseits von Gut und Böse.
»Hätte ich richtig Glück gehabt, dann wäre mir überhaupt nichts passiert«, sagte ich. »Dann hätte ich mir nicht das Bein gebrochen. Mein Fahrrad wäre nicht ein einziger Blechklumpen. Und ich würde nicht den restlichen Sommer in einem Gips stecken. Ich bin bloß froh, dass Nub heil davongekommen ist.«
»Der Truck war riesig. Der hätte dich zerquetschen können wie ’n Opossum.«
»Der Fahrer hat mich gesehn und ist sofort auf die Bremse gestiegen. Nub ist an mir vorbeigerannt – genau zwischen den Reifen von einem anderen Auto durch. Mrs Johnson war gerade in ihrem Garten und hat alles gesehn. Sie hat’s Mom erzählt, und Mom hat’s dann mir erzählt.«
»Wer ist Mrs Johnson?«
»Sie wohnt ein kleines Stück hinterm Autokino. Mom kennt sie vom Sehen. Sie hat mich und mein Fahrrad vom Highway runtergetragen, zusammen mit dem Trucker. Es war nicht seine Schuld. Ich bin ihm genau vor die Motorhaube gerutscht.«
»Hast du gedacht, es wär aus mit dir, als du den Lastwagen gesehn hast?«
»Ich hab nicht besonders viel gedacht. Jedenfalls nicht, bis ich im Krankenhaus lag und sie mir den Gips angelegt haben.«
»Davor kannst du dich echt an nichts erinnern? Wie der Lastwagen dir übers Bein gefahren ist?«
»Nö. Ist er ja auch gar nicht. Das Bein hab ich mir gebrochen, als ich auf die Straße gefallen bin, sagt Mrs
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