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Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss

Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss

Titel: Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe R. Lansdale
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guten Zuhause, mit ’ner guten Mama und ’nem guten Daddy. Hättest ja auch sein können wie ich.«
    »Alles klar, Rosy Mae. Ich werd mich nicht selber bemitleiden. Aber an dir ist auch nichts verkehrt.«
    »Danke, das ist aber nett, Mister Stanley.«
    »Einfach nur Stanley.«
    »Okay. Weißt du einglich, dass dein Daddy dein Fahrrad in Ordnung gebracht hat? Hat ’n paar von den Speichen gerichtet, ’n Schrottrad irgendwo geholt und ’n paar Teile ausgetauscht. Außerdem hat er ihm auch ’n neuen Anstrich verpasst. Is jetzt aber nich mehr so rostrot. Jetzt isses blau.«
    »Das ist ja toll.«
    Rosy Mae ging hinaus, und entgegen ihrem Rat und meinem Versprechen lag ich da und bemitleidete mich selbst. Nub hatte sich auf meiner Brust ausgestreckt und die Augen geschlossen, und eines seiner Beine zuckte, als hätte er einen Albtraum. Wahrscheinlich träumte er von dem Auto, das über ihn hinwegrauschte.
     
    Während der nächsten paar Tage blieb ich größtenteils mit Nub in meinem Zimmer. Daddy ließ Buster eine Woche lang Vertigo vorführen, aber zu einer Sondervorstellung lud er nie jemanden ein.
    Schließlich schaute ich den Film von der Veranda aus, wo ein paar Lautsprecher standen, aber ich fand ihn doof. Unfassbar, dass sich jemand so blöd anstellen konnte wie Jimmy Stewart in diesem Film.
    Kurz darauf bekamen wir einen Cowboyfilm mit John Wayne ins Programm. Der gefiel mir.
    Mein Bein juckte wie verrückt, und ich bog einen Kleiderbügel auf, den ich in den Gips schob, um mich zu kratzen. Den Bügel nahm ich überall hin mit. Ich nannte ihn Larry.
    Aber schlimmer als das Bein war mein Kopf. Der tat richtig weh. Nicht die ganze Zeit über, aber immer mal wieder, und wenn der Schmerz kam, fühlte es sich an, als würde ich noch einmal von diesem Mack -Truck überfahren. Mir kam es vor, als hätte ich einen Sprung im Schädel, und durch diesen Sprung würde mein Gehirn heraussickern. Doch ich hatte lediglich eine große blaue Beule, die pochte, als würde mir ein zweiter Kopf wachsen.
    Wenn mich mein Kopf nicht gerade um den Verstand brachte, dann las ich Bücher über die Hardy Boys , und wenn ich die satthatte, holte ich die Schachtel unter meinem Bett hervor und fing an, die Briefe und Tagebucheinträge noch einmal zu lesen – diesmal etwas gründlicher, und ohne etwas auszulassen.
    Langsam erfuhr ich mehr über M, und meine Überzeugung wuchs, dass sie die Margret war, die unten bei den Bahngleisen ihren Kopf und ihr Leben verloren hatte. In den Briefen gab es mehrere Hinweise darauf.
    Sie erzählte davon, wie sie nachts die Züge vorbeirattern hörte, wie der Fahrtwind am Glas ihres Schlafzimmerfensters rüttelte, wie bedrückend die Pfiffe durch die Nacht gellten, und wie oft sich ihre Mutter betrank und sie anschrie. Sie schrieb über die »Freunde« ihrer Mutter, darüber, wie ihre Mutter sie hereinließ und Geld von ihnen nahm. Sie sagte nie, was es mit den Freunden und dem Geld auf sich hatte, aber nach meinen Gesprächen mit Callie in letzter Zeit, durch die ich ein bisschen mehr über die Welt gelernt hatte, konnte ich eins und eins zusammenzählen.
    Außerdem fiel mir etwas Merkwürdiges auf. Nachts, wenn ich im Bett lag und mit geschlossenen Augen aufs Einschlafen wartete, hatte ich das Gefühl, es sei jemand in meinem Zimmer. Ein Schauer überlief mich. Ich dachte, wenn ich die Augen öffnete, würde jemand neben meinem Bett stehen und sich wie ein drohender Schatten über mich beugen – vielleicht dieser Hexenschatten, den ich im Stilwind-Haus auf dem Hügel gesehen hatte.
    In mir wuchs die Befürchtung, dass es – was auch immer es war – mich packen und mit sich ziehen würde, auf die andere Seite dieses feinen, dunklen Risses: der Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten.
    Nach einer Weile legte sich dieser Eindruck für gewöhnlich, und wenn ich erwachte, fühlte ich mich wie gerädert. Meistens schien dann bereits die Sonne durchs Fenster herein, Nub lag neben mir auf dem Rücken und streckte die Pfoten in die Luft, hatte den Kopf nach hinten geworfen, und die Zunge baumelte ihm aus dem offenen Maul.
    Dennoch war dieses Gefühl so stark, dass ich allmählich den Verdacht hegte, jemand käme tatsächlich nachts zu mir ins Zimmer.
    Callie?
    Vielleicht Mom oder Dad, die wegen der Sache mit meinem Bein nach mir sahen, um sich zu vergewissern, dass es mir gut ging?
    Möglicherweise hatten die Briefe und die Tagebucheinträge dieses Gefühl in mir wachgerufen, weil ich

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