Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
betrachtete das Haus. Für das Gebäude war eine Schneise in den Baumbestand geschlagen worden, so dass es schien, als würde es sich in den Wald schmiegen. Es sah aus wie ein Hexenhäuschen aus dem Märchen oder die Klause eines Einsiedlers. Alle Fenster waren dunkel. Wenn man es nicht besser wusste, wirkte die Hütte verlassen. Vielleicht waren sie hier doch sicherer, als er dachte. Auf jeden Fall empfand er es als Privileg, mit Oda diese Woche verbringen zu dürfen. Schon lange nicht mehr hatteer sich einem Menschen so nahe gefühlt. Sie würde Hanna zwar nie ersetzen können, aber den Schmerz erträglicher machen. In guten Momenten stellte er sich vor, mit Oda zusammenzuleben – um sich eine Sekunde später als naiven Narren zu verdammen. Für den Menschen, der er geworden war, existierte diese Option nicht mehr. Und er musste es verhindern, dass Oda mit ihm in den Abgrund gezogen wurde. Er wusste nur noch nicht, wie.
Krauss marschierte weiter, blieb im Schatten der Bäume, zwei, drei Meter von der Lichtung entfernt. Die Stille erschien ihm unnatürlich, alle Geräusche waren durch den Schnee gedämpft, wie in einem Zimmer mit einem dicken Teppich. Er hatte sich diese Vollmondnacht für die Jagd ausgesucht, war aber trotzdem überrascht, wie hell es tatsächlich war. Nur der Nebel behinderte die Sicht, doch der Wind trieb die Schwaden ab und an auseinander. Manchmal hielt er erschrocken inne, weil er die Umrisse von Menschen auszumachen meinte, doch stets waren es Schattenspiele, hervorgerufen durch den Nebel und das diffuse Mondlicht. Trotzdem bemächtigte sich seiner ein Gefühl innerer Unruhe, eine böse Vorahnung. Krauss mahnte sich zur Vernunft. In einer mondklaren Nacht allein im Wald wurde man leicht zum Opfer seiner Phantasien. Er lief weiter, suchte den Boden nach Spuren ab. Fetzen eines fast vergessenen Traumes bemächtigten sich seiner, diffuse Szenen einer Hatz im Schnee. Es war Edgar, der ihn da verfolgte. Sein toter Bruder.
»Idiot«, sagte er laut. »Reiß dich zusammen!«
Aber es war so, als sei eine Schleuse geöffnet worden. Erinnerungen überfluteten ihn. Gefühle. Bilder. Edgar, der einen Rauchkringel blies und ihm lächelnd eine Zigarette reichte, der auf einem Heuboden spielerisch mit ihm rang und ihn anschließend mit Heubüscheln bewarf, der ihm mit der Gabel ein Stück Fleisch vom Teller stahl, während der Vater geradenicht hinschaute und die Mutter noch am Herd hantierte. Der ihn in den Arm nahm und ihn tröstete, als Beppo, ihr Berner Sennenhund, wegen Altersschwäche vom Tierarzt eingeschläfert wurde. Krauss musste zu seiner eigenen Überraschung weinen, und er wischte sich fluchend die Tränen weg, bevor sie zu Eis gefroren. Was war nur mit ihm los? Er lief weiter, nahm seine Umgebung aber kaum wahr, so sehr war er mit sich selbst beschäftigt.
Krauss dachte an den anderen Edgar. An einen Marsch in finsterer Nacht, begleitet von Hunderten Gleichgesinnten. Mit Fackeln bewehrt wanderten sie durch das dunkle Berlin und brüllten ihre Parolen hinaus. Wer sie nicht hören wollte, dem prügelten sie ihre Wahrheit ein, gnadenlos, brutal, unmissverständlich. In dieser Nacht hatte Krauss seine Tätowierung bekommen, war aufgenommen worden in den elitären Kreis der »Söhne Odins«, war vorgedrungen ins Zentrum der Macht. Krauss fasste sich unwillkürlich an die Brust. Das Motto der »Söhne Odins«, »Reines Blut, reines Herz, reines Volk«, war in seine Haut geritzt. Aber er spürte nur die metallische Kälte des Amuletts, das ihm Hannah geschenkt hatte. Es riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Er blieb stehen, sah sich um. Ohne es zu merken, war er fast bis zum Ende der Lichtung gelaufen. Krauss spähte nach Wild, um sich abzulenken, starrte konzentriert auf die schneebedeckte Wiese, die das Mondlicht reflektierte, wenn sich eine Lücke im Nebel auftat. Auf der anderen Seite meinte Krauss eine verschwommene Gestalt zu sehen, die sich aus dem Schatten des Waldes schälte. Ruhig bleiben. Er hatte sich schon einmal getäuscht. Wenige Meter rechts von der ersten sah er eine zweite Person das Feld betreten, dann eine dritte. Krauss duckte sich.
Das war keine Täuschung. Sie hatten sie gefunden. Er entdeckte weitere Männer, die sofort vom Nebel verschluckt wurden. Sie trugen Waffen, Maschinenpistolen. Das musstenHansens Leute sein. Wie viele waren es? Zwanzig, fünfzig? Hansen würde kein Risiko eingehen. Krauss hätte schreien können vor Wut. Er hatte sich doch zu sicher gefühlt,
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