Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Es kam von der Grenze zwischen Wald und Lichtung. Behutsam arbeitete sich Hansen vor, achtete auf Deckung. Dann sah er einen seiner Männer. Er stand ihm zugewandt hinter einem Baum, der vielleicht drei Meter vomWaldrand entfernt auf der Lichtung wuchs. Der Soldat hatte sich kerzengerade an den Stamm gepresst. Offensichtlich war er starr vor Angst. Hansen vermutete, dass er mit angesehen hatte, was mit Oberleitner passiert war.
»Kriechen Sie herüber«, rief Hansen gedämpft.
Der Mann drehte den Kopf in seine Richtung. Wahrscheinlich sah er Hansen nicht.
»Nun machen Sie schon«, insistierte Hansen. »Sie haben es fast geschafft.«
Der Mann zitterte, bewegte sich. Umständlich rutschte er am Stamm herunter, schlenkerte ungelenk mit den Armen. So nicht, dachte Hansen. Blutnebel spritzte aus dem Unterarm des Soldaten. Der Mann jaulte auf, hielt sich die Wunde und taumelte, benommen vom Schmerz, aus der Deckung des Baumes. Hansen hörte, wie die nächste Kugel mit einem dumpfen Schlag in den Oberkörper des »Sohnes Odins« klatschte. Die Wucht des Aufpralls riss ihn halb herum, seine Maschinenpistole wurde weggeschleudert. Krauss bestrafte jeden Fehler gnadenlos, registrierte Hansen mit einer Mischung aus Faszination und Besorgnis. Der reglose Körper des Mannes vor ihm erinnerte Hansen daran, dass er selbst genauso verletzlich war. Sterblich. In das Schneefeld zwischen ihm und der Waldgrenze hatten Blutspritzer ein bizarres Bild gezeichnet. Hansen starrte darauf. Etwas rührte sich in ihm, er fühlte sich zurückversetzt in ein anderes Leben. Déjà-vu. Dieses Bild hatte er schon einmal gesehen. Blut im Schnee. Nur wo? Er war verwirrt. Der Wald sandte ihm Botschaften. Zum ersten Mal seit langer Zeit tastete Hansen nach seinem Amulett. Unter den Schichten seiner Kleidung spürte er den harten Jaguarzahn und atmete durch. Noch war dieser Kampf nicht verloren.
Er lief zurück in den Wald nach Norden, auf die Hütte zu. Unterwegs sammelte er die übriggebliebenen »Söhne Odins«ein. Von ihnen war niemand verletzt. Auf der Höhe des Hauses hockten sie sich zusammen. Vierzehn Mann. Mindestens vier waren tot. Sieben probierten, Krauss von Süden her zu überrumpeln. Wenn es noch sieben waren.
»Wir müssen sichergehen, dass niemand mehr im Haus ist«, sagte Hansen. »Drei Mann kommen von vorn, drei von hinten. Seid vorsichtig. Der Rest folgt mir durch den Wald. Noch Fragen?«
Keiner antwortete. Es gab nichts zu sagen. Hansen versuchte, in dem trüben Licht in den Gesichtern um ihn herum zu lesen, aber das war fast unmöglich. Sie würden ihn nicht hängenlassen, darauf kam es an. Sie waren »Söhne Odins«.
»Dann los«, befahl er.
Die Männer teilten sich in Gruppen auf. Dann stürmten zwei Trupps geduckt über die Lichtung auf das Haus zu. Hansen rechnete jeden Moment damit, dass einer von ihnen wieder wie von Geisterhand ausgeschaltet würde. Doch die erste Gruppe hatte die Vorderseite der Hütte fast erreicht, ohne dass ein Schuss gefallen war. Gerade als Hansen sich zu seiner Entscheidung beglückwünschen wollte, trat eine Gestalt halb hinter der Hausecke hervor und warf etwas. Zwei Sekunden später explodierte zwischen den Männern eine Handgranate. Schnee, Erde und zwei Körper wurden durch die Luft geschleudert, die riesige Fensterscheibe des Hauses platzte mit lautem Klirren. Hansen zog unwillkürlich den Kopf ein, obwohl er sich in sicherer Entfernung befand. Mein Gott, dachte er. Das hier entwickelte sich zu einem Fiasko.
Er gab seinen Leuten ein Zeichen und lief los, weiter in den Wald hinein. Sie folgten ihm. Die Dunkelheit und die Bäume würden ihnen Schutz bieten. Den Kameraden am Haus konnte er sowieso nicht mehr helfen. Vielleicht gelang es ja den dreien, die sich der Rückseite näherten, den Gegner zu überwältigen. Er hoffte es, hatte aber den Glauben daran verloren.Er dachte an Görings Worte. »Unterschätzen Sie die beiden nicht«, hatte der Reichsfeldmarschall gesagt, als er hörte, dass Oda lebte. Das Paar hatte im Alleingang die Bunkeranlage von Schein-Carinhall überfallen und sämtliche Wachen ausgeschaltet. »Die beiden sind verrückt«, warnte Göring ihn, »und werden sich niemals kampflos ergeben.« Hansen hatte zwar vermutet, dass er auf Widerstand stoßen würde, Görings Urteil aber für übertrieben gehalten. Jetzt wusste er, was der Feldmarschall meinte.
Von Verzweiflung getrieben, erhöhte Hansen das Tempo, hastete wie von Sinnen durch den Wald, wich herabhängenden
Weitere Kostenlose Bücher