Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
und einem schmalen Mund. Die blonden Haare waren streng gescheitelt. Vom Alter her mochte sich der Unbekannte nicht groß von Krauss unterscheiden. Anfang, Mitte dreißig, schätzte er. Ihm war unbehaglich zumute, ohne dass er hätte erklären können, warum.
»Ich bin froh, dass du lebst, Richard«, sagte der Unbekannte und setzte sich lässig auf die Bettkante. Krauss erschrak. Was war er doch für ein Idiot gewesen! Er kannte den Kerl von früher. Vor ihm saß Theo Straubinger. Ein cleverer Bursche, der damals für Einsätze nicht viel taugte, dafür aber komplizierte Operationen plante und Verhöre auswertete. Straubinger war eines der Gehirne der Gestapo. Edgar hatte ihn zu seiner geheimen Elite-Einsatztruppe geholt, die sich mystisch verklärend »Söhne Odins« nannte. Der martialische Name sollte ihr Credo als eigene Einheit innerhalb der Gestapo herausstellen, und er sollte ihnen einen Ruf verschaffen – wasihnen dank ihrer rücksichtslosen Vorgehensweise schneller gelang als gedacht. Bevor Krauss mit Hanna und dem Jungen verschwand, hatte er Straubinger vielleicht ein halbes Jahr lang erlebt. Deshalb hatte er ihn nicht sofort erkannt. Aber auch auf Straubingers linker Brust war das Zeichen der »Söhne Odins« in die Haut tätowiert, ein rotes Herz, umschlungen von einem dornenbewehrten Hakenkreuz. Reines Blut, reines Herz, reines Volk. Straubinger war ein »Sohn Odins«. Krauss hatte es von Anfang an geahnt.
»Du siehst zwar nicht gut aus«, fuhr Straubinger fort, »aber gemessen an dem fürchterlichen Zustand, in dem ich dich gefunden habe, hast du großartige Fortschritte gemacht. Bedanke dich bei Samuel.« Er deutete mit dem Kopf zu Weinberg. »Um dich kümmert sich einer der besten Ärzte, die ich kenne. Vielleicht sogar der beste. Er hat Maria gerettet, meine kleine Tochter, du erinnerst dich sicher an sie. Nein, du erinnerst dich nicht. Ist auch egal. Wenn dich einer wieder auf die Beine bringt, dann ist es Samuel. Das hier ist alles, was er noch tun kann. Aber so sind eben die Zeiten. Vielleicht kannst du etwas ausrichten. Deshalb bist du hier.«
Krauss war vollkommen ratlos. Er hatte keine Ahnung, wovon Straubinger redete. Und er konnte sich an keine Tochter erinnern. Es war zu lange her und ihr Kontakt nicht eng genug gewesen. Was wollte Straubinger von ihm? War das eine neue Verhörtechnik, die er an ihm ausprobierte? Als könnte Straubinger seine Gedanken lesen, sprach er weiter.
»Du willst sicher wissen, wie ich dich gefunden und hierhergebracht habe. Nun, das verdankst du meiner ausgeprägten Beobachtungsgabe und meinem Erfindungsreichtum. Ich kenne den Wannsee sehr gut und bin oft selbst dort geschwommen. Es gibt unterseeische Strömungen, die dich ungewöhnlich weit abtreiben können. Ich habe das abgeschätzt und für mich ein Gebiet abgegrenzt, in dem ich deinen Körper findenkönnte. Ich sage Körper, weil ich nicht damit gerechnet habe, dich lebendig vorzufinden. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie überrascht ich gewesen bin, als ich dich am Abend aus dem Schilf gezogen habe und feststellen musste, dass du noch atmest.« Straubinger schüttelte den Kopf, ganz versunken in seine abenteuerliche Geschichte, mit ihm als dem großen Retter.
»Es war fast so eine Art Schock für mich. Sicher, wahrscheinlich habe ich ganz tief in mir gewünscht, dass du noch lebst, aber die Realität hat mich dann doch überwältigt. Diese Kugeln, die dich getroffen haben, das stundenlange Liegen im kühlen Wasser, nach menschlichem Ermessen hättest du tot sein müssen. Manchmal hält sich das Leben glücklicherweise nicht an das Maß, das wir an es anlegen wollen.«
In Straubingers Blick meinte Krauss einen Hauch Skepsis zu erkennen, als vertraue er selbst jetzt nicht dem Schicksal, das ihm einen so unglaublichen Fund vor die Füße spülte. Die Sache erschien Krauss zunehmend rätselhafter. Straubinger aber ließ sich nicht beirren und fuhr selbstverliebt fort, die Geschichte einer wundersamen Rettung zu erzählen.
»Da saß ich nun, mit einem lebendigen Richard Krauss in meinen Armen. Mir war natürlich klar, dass es mit dir auf Messers Schneide stand. Ich nahm an, dass du die Nacht nicht überleben würdest, mit diesen Verletzungen. Wenn ich dich retten wollte, musste ich sofort handeln. Sofort, aber überlegt. Erst einmal habe ich dich aus dem Wasser gezogen und im Schilf versteckt. Dann bin ich losgegangen und habe zwei Decken besorgt. Das war nicht weiter schwierig, denn im Haus herrschte
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