Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
seit Edgars Tod allgemeine Untergangsstimmung. Nicht nur Helga weinte den ganzen Tag, auch die Männer schienen den Tränen nahe. Ziemlich lächerlich eigentlich. Als wäre es nun ein für alle Mal vorbei mit den ›Söhnen Odins‹. Ich habe mir die Decken geschnappt und bin wieder gegangen.Draußen wartete ein Leichenwagen den halben Nachmittag, um Edgar in die Pathologie der Gestapo zu transportieren. Aber Helga wollte sich nicht von ihrem toten Mann trennen. Alles sehr theatralisch. Doch im Nachhinein für meine Bedürfnisse perfekt.«
Aus Straubingers Augen leuchtete unübersehbar der Stolz über seinen Ideenreichtum.
»Denn auf dem Rückweg zu dir kam mir ein verwegener Gedanke. Was, wenn ich dich in demselben Wagen fortschaffe, mit dem die Leiche deines Bruders abtransportiert wird? Niemand würde auf die Idee kommen, das Fahrzeug zu untersuchen. Ich musste nur Helga davon überzeugen, dass sie dem Fahrer diese Aufgabe nicht überlassen dürfe und ich der einzig richtige Mann dafür sei. Also habe ich dich schnell in die Decken gewickelt und bin zurück zum Haus. In meinem Kopf spulte sich alles ab wie ein Film: Wie ich auf Helga einrede, Edgar müsse von einem seiner besten Männer gefahren werden, einem, von dem sie wisse, dass sie ihm bedingungslos vertrauen könne. Niemand sonst – außer ihr natürlich – hätte das Recht darauf, ihn auf diesem Weg zu begleiten. Sie müsse die Kinder versorgen, ihnen Stärke geben. Wie ich dem verdatterten Fahrer hundert Reichsmark zustecke, damit er seine Empörung zügelt. Wie die Männer den Sarg mit Edgar in den Wagen schieben. Wie ich die hysterisch heulende Helga umarme, mich ans Steuer setze und über die Zufahrt an den Wachen vorbei das Gelände verlasse. Wie ich dreihundert Meter weiter im Schutz der Dunkelheit und des dichten Buschwerks den Wagen anhalte, aussteige und zum Ufer des Sees laufe. Wie ich dich über die Schulter hieve und deinen sterbenden Körper zum Wagen wuchte. Wie ich dich so vorsichtig wie möglich neben den Sarg deines Bruders lege, die Geschwister wieder vereine. Wie ich durch die Nacht fahre und dich bei Samuel Weinberg ablade. Wie ich Edgar an seinen Bestimmungsortund den Wagen zurück zu seinem Haus bringe, damit der Fahrer das leere Gefährt übernehmen kann. Wie ich Helga tröste und dabei daran denke, dass ich den Mörder ihres Mannes gerade aus ihrem Einflussbereich fortgeschafft habe. Wie ich erst still und dann, unbeobachtet, auch laut triumphiere.«
Straubinger legte eine Pause ein, um die Pointe auszukosten.
»Und was soll ich sagen – genau so ist es abgelaufen.«
Krauss bekam das Gehörte nicht sortiert. Warum hätte Straubinger ihn retten sollen? Zwischen ihnen war nie etwas gewesen, schon gar nichts, was man als Freundschaft hätte bezeichnen können. Arbeitete Straubinger vielleicht im Auftrag einer anderen Regierung oder einer anderen Institution? Oder handelte es sich bei der Geschichte wieder um eines der perfiden Täuschungsmanöver der »Söhne Odins«? Krauss war schon einmal auf eine gemeine Finte hereingefallen, und damals hatten sie sich ebenfalls seinen geschwächten Zustand zunutze gemacht.
»Warum?«, fragte er.
Straubinger lächelte milde.
»Natürlich traust du mir nicht. Das klingt ja auch alles ziemlich unglaublich. Es ist aber wahr, und ich habe meine Gründe. Gute Gründe, über die ich mit dir reden möchte, wenn es dir besser geht. So hat es keinen Zweck.«
Das Lächeln verschwand. Straubingers Stimme wurde schärfer.
»Dir sollte klar sein, dass man mich für das, was ich getan habe, sofort exekutieren würde. Da gibt es kein Pardon. Mit deiner Rettung habe ich mein Leben verwirkt.«
Er hustete leicht in die vorgehaltene Hand.
»Da ist noch eine Sache, mit der ich dir meine Ehrlichkeit beweisen möchte. Sie hat mit Samuel zu tun. Allein der Kontakt mit ihm würde mich mindestens die Karriere kosten.«
Straubinger sprach nun zu Weinberg.
»Sag du es ihm, Samuel.«
Krauss musste den Kopf drehen, um den Arzt zu sehen. Weinbergs Miene blieb stoisch.
»Ich bin Jude«, sagte er.
5.
B RASILIEN
1. Dezember 1935
Rio Jary
Der schwarze Klammeraffe saß etwa fünfzig Meter entfernt auf einem Ast. Hansen drückte den Kolben fest gegen seine Schulter und hielt den Atem an. Das Tier starrte wild zu ihm herunter, nicht ahnend, dass seine Lebensspanne nur noch in Sekunden zu bemessen war. Hansens Finger suchte den Druckpunkt. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte der Deutsche sich verbunden mit
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