Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
tot.«
Die Kleine warf den Kopf nach vorn und prustete die Worte raus.
»Das weiß ich doch längst. Mama und Papa sind schon lange krank, aber ganz lebendig. Ich bin auch manchmal krank, doch das geht vorbei.« Sie nickte. Krauss war neugierig geworden.
»Was haben deine Eltern denn für eine Krankheit?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ihre Arme ruderten wild in der Luft herum.
»Keine Ahnung. Aber sie dürfen nicht zur Arbeit, sondern müssen zu Hause bleiben. Damit sie niemanden anstecken.«
Krauss glaubte zu wissen, was hinter der Krankheit der Weinbergs steckte. In den vergangenen Tagen hatte er genug Zeit gehabt, über seine Situation nachzudenken. Auch wenn das Ehepaar bislang nur das Nötigste mit ihm sprach – angeblich, um ihn zu schonen –, ließen Straubingers Ausführungen nicht viele Deutungen zu. Weinberg hatte gesagt, er sei Jude. Es war möglich, dass er seinen Beruf nicht ausüben durfte. Krauss hatte die vergangenen fünf Jahre in England verbracht und die politischen Nachrichten aus Deutschland nicht so aufmerksam verfolgt, wie es vielleicht nötig gewesen wäre. Stattdessen hatte er sich auf die Informationen des britischen Geheimdienstes MI5 verlassen. Mehr brauchte und wollte er nicht wissen. Aber es war ihm zu Ohren gekommen, dass die deutsche Regierung für Juden Berufsverbote verhängt hatte. Das würde das merkwürdig schmale Zimmer erklären, in dem er sich befand. Weinberg betrieb eine illegale Praxis, und Straubinger unterstützte ihn dabei. Aus bislang unklaren Motiven.Das war es, was er sich zusammengereimt hatte, und die beiläufigen Sätze des Mädchens bestätigten seine Einschätzung.
»Aber das ist doch schön für dich, wenn deine Eltern zu Hause sind. So können sie sich um dich kümmern.«
Das Mädchen grimassierte.
»Schön, ja. Aber manchmal auch nicht. Denn Papa ist oft traurig, und Mama weint. Dann möchte ich, dass sie wieder gesund werden und arbeiten gehen können. Wirst du denn wieder gesund?«
Krauss betrachtete das Kind. Es hatte das Leben noch vor sich, dachte nicht an das Unvermeidliche, nur an das Naheliegende. Ja, wie war es um ihn bestellt? Würde er wieder gesund werden? Im Moment sah es tatsächlich danach aus.
»Natürlich«, sagte er. »Und dann gehe ich wieder arbeiten.«
Das Mädchen drehte sich plötzlich um, schaute nervös zur Tür. Sie hatte etwas gehört, wirkte unschlüssig. Offensichtlich durfte sie nicht hier bei ihm sein. Ohne ein weiteres Wort rannte sie davon. Krauss blickte ihr hinterher. Er kam nur selten mit Kindern in Berührung, fühlte sich in ihrer Gegenwart oft unbeholfen. Seine Unfähigkeit, sie vor dem zu beschützen, was gerade in dieser Welt geschah, peinigte ihn. Krauss musste an Philipp denken, Hitlers heimlichen Sohn, den er erst mit Hanna aus dem Land und später nach London geschafft hatte. Philipp war sechs, also etwa im Alter des kleinen Mädchens. Auch bei ihm hatte er versagt. Weil Krauss sich einredete, seine eigenen Rachegelüste würden das Wohlergehen des Jungen sichern, hatte der Junge seine Adoptiveltern verloren und war nach Deutschland verschleppt worden. Nur mit Odas Hilfe war es ihm gelungen, Philipp zu befreien. Aber zu welchem Preis? Der Junge war traumatisiert, heimatund elternlos. Ihn seinem leiblichen Vater zuzuführen, hätte noch weitaus größeres Unheil über ihn gebracht. Es war so schon schwer genug, Philipp fernzuhalten von den Begehrlichkeiten,die seine Herkunft unter den Nazi-Mächtigen weckte. Göring wollte ihn in seine Gewalt bringen, um ihn für seine Zwecke zu instrumentalisieren, aber auch Bensler und Edgar hatten versucht, Hitlers Sohn für sich gewinnbringend einzusetzen. Bensler und Edgar waren tot, Philipp lebte noch. Wenigstens etwas. Der Junge wusste zum Glück nichts von seiner Herkunft. Ihm musste alles, was geschah, wie ein unerklärlicher Alptraum erscheinen, wie ein blutiger Sturm, der aus dem Nichts über ihn hinwegfegte. Jetzt war er mit Oda auf der Flucht, hoffentlich in ein besseres Leben.
Oda. Sie war einer der wenigen Menschen, denen Krauss vertraute. Vielleicht sogar der einzige, wenn er es genau bedachte. Obwohl sie ihm anfangs keinen Grund dazu gegeben hatte. Als sie sich zum ersten Mal begegneten, war sie eine Doppelagentin, arbeitete für seinen Bruder Edgar, in Wahrheit jedoch für Hermann Göring. Krauss konnte sie nach anfänglichen Schwierigkeiten für sich gewinnen, sie mit Philipps schrecklicher Geschichte überzeugen, dem Jungen zu helfen.
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