Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Merkwürdige Parallelität des Lebens. Schon einmal hatte der Junge eine Frau dazu gebracht, ihn vor einer unheilvollen Zukunft zu bewahren. Hanna war mit Krauss und dem Säugling aus Deutschland geflohen. Sie hatte dafür das größtmögliche Opfer gebracht. Jetzt war Oda mit Philipp unterwegs, und Krauss wusste nicht einmal, wohin. Er hatte es nicht wissen wollen, für den Fall, dass man ihn foltern würde. Er stellte sich Oda und Philipp auf einem Schiff vor, nach England, lieber aber nach Australien, so weit wie möglich entfernt von Hitlers Einflussbereich. Oda konnte es schaffen, da war sich Krauss sicher, er hatte sie in Extremsituationen erlebt. Sie war klug, einfallsreich, kämpferisch. Eine Amazone. Er lachte leise. Ja, das war sie. Eine moderne Amazone. Oda würde das ihr anvertraute Kind bis aufs Blut verteidigen. Sie hatte keine Angst vor dem Tod.
Die Tür ging auf. Weinbergs Frau Inge trat mit einem Tablett ins Zimmer. Sie brachte das Mittagessen. Seit drei Tagen konnte Krauss wieder feste Nahrung zu sich nehmen. Die Mahlzeiten strukturierten seinen Tag, vermittelten so etwas wie Normalität. Er war dankbar dafür. Weinbergs Frau stellte das Tablett auf dem Nachttisch ab, klappte das Kopfteil des Bettes hoch, so dass Krauss aufrecht sitzen konnte, und reichte ihm das Tablett. Es gab zerstampften Kartoffel-Möhren-Auflauf und eine Tasse Tee.
»Guten Appetit«, sagte sie. »Aber essen Sie langsam.« Sie wollte gehen, doch Krauss ergriff ihren Arm.
»Bitte, bleiben Sie noch einen Moment«, sagte er. Weinbergs Frau musterte ihn erst unschlüssig, setzte sich dann aber neben sein linkes Bein auf die Bettkante. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Krauss fand, dass sie müde aussah. Aber nicht nach der Art von Müdigkeit, die aus einem arbeitsreichen Haushalt resultierte. Sie sah so aus, als hätte man ihr die Hoffnung gestohlen, den Glauben an eine bessere Zukunft.
»Die Kinder«, setzte sie an, »sie geben nie Ruhe.«
»Ich möchte mich bei Ihnen von ganzem Herzen entschuldigen«, ging Krauss über ihre Worte hinweg, »für die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen bereite. Sie haben so schrecklich viel Arbeit mit mir, dass ich gar nicht weiß, wie ich das jemals wiedergutmachen soll. So wie in diesen Tagen habe ich mich noch nie geschämt, das sollen Sie wissen, und sobald ich wieder auf eigenen Beinen stehe, werde ich mich revanchieren. Ich weiß nicht, wie, aber es wird sich ein Weg finden …«
Weinbergs Frau winkte ab und setzte an, etwas zu erwidern, aber Krauss ließ sie nicht zu Wort kommen.
»… außerdem bin ich mir sicher, dass Sie sich durch meine Anwesenheit in große Gefahr bringen. Ich weiß nicht, warum Sie das tun, aber es zeigt, wie unglaublich mutig Sie sind. Sich gegen dieses System zu stellen, in Ihrer Situation.«
Sie schwieg, die Augen leicht gesenkt, einen Punkt des Bettes fixierend.
»Ihr Mann hat mir erzählt, dass Sie Juden sind«, sagte Krauss.
Weinbergs Frau hob den Blick.
»Ich war Protestantin, bin aber vor der Hochzeit zum jüdischen Glauben konvertiert. Das ist in ihren Augen fast noch schlimmer.« Sie sprach das »ihren« voller Verachtung aus. »Samuel hat gesagt, Sie hätten einen hohen Gestapo-Offizier getötet. Auch wenn ich Gewalt ablehne und nicht daran glaube, dass sie unsere Probleme lösen kann, freue ich mich, dass jemand den Mut findet, sich ihnen entgegenzustellen.« Sie legte eine Hand auf sein Bein. »Sie müssen sich für gar nichts entschuldigen.«
Jetzt war es an Krauss wegzuschauen.
»Sie wissen nichts über mich«, sagte er. »Ich bin kein guter Mensch. Noch vor ein paar Jahren habe ich an dieselbe Sache geglaubt wie die Menschen, die Sie so verachten. Und ich habe in meinem Leben furchtbare Dinge getan. Unverzeihliche Dinge. So gern ich es auch will, ich kann es nicht ungeschehen machen.«
Weinbergs Frau zuckte mit keiner Wimper.
»Für mich zählt nur, was Sie jetzt denken und tun«, sagte sie.
»Die Vergangenheit ist nicht vergangen. Nicht für mich«, entgegnete er. »Sosehr ich mir es anders wünschen würde. Aber meine Schuld werde ich selbst dann nicht los, wenn ich das gesamte Nazi-Pack umbringe. Ich bin mir dessen in jeder Sekunde bewusst. Bevor Sie in mir also etwas sehen, was ich nicht bin, denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe. Ich bin kein guter Mensch.«
Sie schwieg, schaute dabei durch Krauss hindurch in die Ferne. Dann fixierte sie wieder seine Augen. Als hätte sie kurzin meine Seele geschaut, dachte
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