Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
abgesehen. Kleidung und Gewehr verstaute er in einer Mulde unter der Rückbank. Nicht das raffinierteste Versteck, aber zum Glück war er bisher in keine Polizeikontrolle geraten. Ungehindert zuckelte Krauss durch den Wald zur Straße und bog ab in Richtung Berlin. Auf der Fahrt dachte er nur über Oda nach, konzentrierte sich kaum auf den Verkehr. Wie hatte sie sich austricksen lassen? Bis wohin war sie gekommen? Hatte der Mann mit dem Zopf sie geschnappt? Was wusste Straubinger? Gegen elf Uhr parkte er vor dessen Haus und konnte kaum sagen, wie er dorthin gefunden hatte. Noch in Gedanken, klopfte er an der Tür. Die Nachbarn waren es gewohnt, dass regelmäßig SS und Gestapo bei Straubinger ein und aus gingen. Sie vermieden es tunlichst, genauer hinzusehen. Nach zwei langen Minuten öffnete der »Sohn Odins« die Tür. Seinem Gesicht war die Anspannung anzusehen.
»Hat es geklappt?«, fragte er mit bangem Unterton.
»Lass mich erst mal rein«, sagte Krauss, schob sich an ihm vorbei in den Flur und wartete an der offenen Küchentür.
»Also nicht«, folgerte Straubinger, während er die Haustür ins Schloss fallen ließ. Krauss schüttelte den Kopf. Sein ehemaliger Kamerad schien fast erleichtert. Oder bildete er sich das ein?
»Geh durch ins Wohnzimmer«, sagte Straubinger so beiläufig wie möglich.
Krauss zögerte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Auf den ersten Blick schien alles normal, es waren nur winzige Nuancen, die ihn störten. Straubingers Wortwahl, ein kaum wahrnehmbares Flirren seiner Pupillen, ein fremder Geruch. Plötzlich schrillten bei Krauss alle Alarmglocken. Straubinger hatte etwas vor. Das war der Moment, in dem sich sein wahres Gesicht offenbarte. Ein kaltes Stück Metall bohrte sich in Krauss’ Nacken.
»Einen Mucks, und du kannst dein Gehirn von den Wänden kratzen«, sagte eine Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
17.
B ERLIN
11. Januar 1940
Sonderzug »Asien«
»Warum hast du mir das angetan?«
Aus dem Gesicht ihres Onkels sprach ehrliches Unverständnis. Allerdings war Göring stets ein begabter Schauspieler gewesen, dachte Oda. Er liebte den theatralischen Auftritt. Man konnte nie sicher sein, was er wirklich plante.
»Wie soll ich dir erklären, was du nicht begreifen kannst?«, antwortete sie. Göring hatte sie in ihrem Gefängnisabteil besucht, saß ihr gegenüber, feist und behäbig, beinahe buddhahaft. Seine speckigen Wangen leuchteten rosa und ließen die Augen kleiner erscheinen, Hals und Kinn kamen sich bedrohlich näher. Oda betrachtete seine aufgedunsenen Hände. Der Ehering hatte sich tief ins Fleisch der wurstdicken Finger gegraben. Göring war für Oda das beste Beispiel, wie sich ein widerlicher Geist in einem abstoßenden Körper manifestierte.
»Du hast es ja nicht einmal versucht. Wenn ich mir überlege, was ich alles für dich getan habe.«
Der Reichsfeldmarschall sah demonstrativ aus dem Fenster, hinter dem die tiefverschneite sächsische Landschaft vorüberzog. Sie mussten auf der Höhe von Weimar sein. Er drehte den Kopf zurück und richtete seine trüben Augen auf Oda.
»Und was tust du? Du verrätst mich, tötest meine Männer, deine Kollegen, nur wegen dieses Verrückten, damit er seinen persönlichen Krieg führen kann. Er ist übrigens tot, falls du es noch nicht wissen solltest. Vorher hat er allerdings seinen Bruder erschossen. Was für eine Verschwendung.«
Obwohl Oda davon ausgegangen war, Krauss nicht mehr lebend wiederzusehen, versetzten ihr Görings Worte einen Stich. Sie hatte diesen stillen, seelisch schwer beschädigten Mann ins Herz geschlossen. Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben wäre vielleicht ein Paar aus ihnen geworden. Jetzt hatten sie sich verhalten wie zwei Gestirne auf derselben Umlaufbahn – sie waren miteinander kollidiert, um sich dann in entgegengesetzte Richtungen voneinander zu entfernen, für alle Zeiten. Mit Görings Nachricht zerplatzte das letzte Quäntchen Hoffnung, Krauss noch einmal wiederzusehen.
»Habt ihr ihn wenigstens anständig begraben?«, fragte sie.
»Seine Leiche wurde nie gefunden. Sie verfault in den Tiefen des Wannsees.«
Wieder spürte sie einen Stich, diesmal aus einem anderen Grund. Sie kannte Krauss gut. Er war unglaublich zäh, lebte seit Jahren mit einer Kugel im Rücken und ließ sich davon nicht beeindrucken. Oda traute ihm zu, die Nazis glauben zu lassen, er sei tot. Sie lächelte.
»Man sollte nur glauben, was man mit eigenen Augen gesehen hat.«
»Red keinen Unsinn.
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