Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
war ihr größtes Problem, sprach ausschließlich Englisch. Wenn sie in eine Kontrolle geriete und er gefragt wurde oder ungefragt sprach, würden sie auffliegen. Zumindest war es schwer zu erklären, was eine deutsche Frau mit einem englischen Jungen zu tun hatte. In Kriegszeiten. Sie dachte sich Geschichten aus, von einem englischen Neffen, den sie nach Dover einschiffen musste, doch es hörte sich wenig plausibel an. Ihr Überleben hing von Zufällen ab. Außerdem brauchten sie Geld. In einem kleinen Dorf im Hunsrück fragte sie einen Bauern, der sein Feld bestellte, nach einer warmen Mahlzeit für sich und den Jungen. Der Mann hatte ein offenes, wettergegerbtes Gesicht mit wachen Augen. Er lud sie zu sich auf den Hof ein, versicherte, sie müssten keine Angst haben. Es stellte sich heraus, dass er eine an den Hof angeschlossene Gastwirtschaft mit ein paar Zimmern betrieb und eine Aushilfe gebrauchen konnte.
»Im Hinterhaus steht eine Wohnung leer. Da könnt ihr einziehen, wenn ihr wollt«, sagte er. Er war ein Mann weniger Worte.
Oda vertraute ihrer Intuition. Auch Philipp fühlte sich wohl auf dem Hof; mit den Gästen kam er kaum in Berührung. Vor allem am späten Nachmittag und frühen Abend war viel los in der Schenke, und Oda hatte gut zu tun. Der Landwirt behandelte sie anständig; er hatte seine Frau verloren und keine Kinder. Er hieß Schubert, sein Lokal war namenlos. Schubert mochte Philipp, Oda hatte ihm erzählt, dass der Junge der Sohn ihrer schwerkranken Schwester sei, die in England lebe. Philipp habe den Sommer bei seiner Tante verbracht, um die Mutter zu schonen, aber dann sei der Krieg ausgebrochen, und die Schwester habe es für besser erachtet, wenn ihr Kind zurück in die Heimat käme. Deshalb würde Oda ihren Neffen höchstpersönlich nach Calais bringen, um ihn dort nach Dover einzuschiffen, damit dem Jungen nichts passiere. Nur müsse sie vorher ein wenig Geld verdienen. Schubert hatte die Geschichte mit keinem Wort kommentiert. Allein dafür mochte Oda ihn.
Nach sechs Wochen geriet ihre Zuflucht in Gefahr. Der Gauleiter Westmark hatte einen Beamten in das Dorf geschickt, um ausführlichere Datensätze über die dort ansässigen Bauern und deren Ländereien zu erhalten. Für die in naher Zukunft anstehende Westoffensive brauchte die Wehrmacht genaue Angaben. Lehmann, so hieß der NSDAP-Beauftragte, war ein Mann Ende dreißig, mit streng nach hinten gekämmten Haaren und einem spitzen Gesicht, das Oda an einen Habicht erinnerte. Er war ihr sofort unsympathisch, zumal er in Schuberts Hof abstieg. Lehmanns Anwesenheit stellte eine ernste Bedrohung dar. Oda hoffte, er würde nur kurz bleiben, und schärfte Philipp ein, dem Mann aus dem Weg zu gehen. Was sie nicht bedacht hatte: Lehmann fand Gefallen an ihr, deraparten, geheimnisvollen Blondine, die bei Schubert arbeitete. Er flirtete mit ihr, machte Komplimente, schenkte ihr Blumen; Oda verzweifelte fast ob dieser hartnäckigen Annäherungsversuche. Sie fand Lehmann ekelhaft, seine kriecherische Art, sich bei ihr einzuschleimen, und auch sein herrisches Benehmen gegenüber den Dörflern. Als er sich nach drei Tagen nicht verabschiedet hatte, entschied Oda, in der nächsten Nacht mit Philipp zu verschwinden. Doch Lehmann war schneller. Er bat um eine ernsthafte Unterredung mit ihr, und dabei ginge es nicht nur um sie. Lehmann hatte mit Philipp gesprochen, das war klar. Oda willigte ein und bot ihm an, bei einem Spaziergang über alles zu reden. Sie führte ihn über Schuberts Felder hinunter zu einem Wäldchen an einem Bach. Lehmann hatte keine Eile, auf den Grund seiner Unterhaltung zu kommen, er spielte beflissen den galanten Verehrer.
»Was ist denn so dringlich, dass Sie es unbedingt mit mir klären müssen?«, fragte Oda ihren Begleiter am Ufer des Baches.
»Nun«, sagte Lehmann, »es geht um Philipp. Das Kind, dessen Vormund Sie offenkundig sind. Sie haben es gut vor mir verborgen. Aber letztendlich bin ich natürlich auf den Jungen gestoßen. Er ist Engländer, musste ich zu meiner Überraschung feststellen.«
Sie hoffte, dass genau dieser Umstand ein Gespräch verhindert hatte.
»Er ist der Sohn meiner Schwester, die in England lebt«, erklärte sie.
Lehmann lächelte überlegen.
»Nun«, sagte er süffisant. »Zufällig spreche ich sehr gut Englisch.«
Oda zog aus ihrer Rockschürze die schallgedämpfte Walther PPK, die ihr Krauss gegeben hatte, und schoss Lehmann in den Kopf. Der NSDAP-Mann hatte gerade noch Zeit gehabt, sie
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