Ein Freund aus alten Tagen
Dr. Svedberg an, Henrik? Um fünf im Pausenraum.«
Liston hatte wieder zu seinem Stift gegriffen und begonnen, ihn zwischen den Fingern zu drehen.
»Vielleicht, mal sehen, hab gerade viel Arbeit und so. Hm, kommt drauf an.«
Listons Satz schien wie ein Lemming im Abgrund zu verschwinden, ohne Ziel oder Hoffnung auf eine Wiederkehr.
Sie lächelte und kräuselte freundlich die Nase.
»Ach, komm schon, Henrik. Mir zuliebe.«
Liston errötete. Er murmelte etwas, das Meijtens und offenbar auch sie als ein Ja deuteten.
»Schön, dann bis heute Nachmittag. Melde dich, wenn du noch Fragen zu meinem Bericht hast.«
Meijtens beschloss, einen Schuss ins Blaue zu wagen.
»Dann hat Henrik also recht mit seiner Theorie?«, fragte er leichthin, als hätten sie gerade alle drei über das Thema gesprochen. Liston sah ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Missbilligung an, bekam aber kein Wort heraus.
»Allerdings. Einige der Füllungen wurden definitiv in Osteuropa gemacht. Mit Sicherheit in Albanien, so miserabel, wie sie sind.« Sie verzog das Gesicht zu einer herablassenden Grimasse. »Ein paar sind nach Verletzungen angefertigt worden, die durch äußere Gewalt oder einen Unfall entstanden sind.«
Sie ging zu Liston und zeigte auf eine Notiz in den Papieren, die sie ihm gerade gegeben hatte. »Aber mehrere seiner Füllungen haben westeuropäische Qualität und stammen aus einem Land mit einem zahnärztlichen Standard wie Schweden. Ein skandinavisches Land, die Niederlande, die Bundesrepublik Deutschland oder vielleicht auch Großbritannien.«
Sie machte eine Pause, und Liston sackte mit einem flehenden Blick auf Meijtens in sich zusammen. Dann fuhr sie im gleichen beiläufigen Tonfall fort.
»Seltsam ist nur, dass die guten, westeuropäischen Füllungen die ältesten sind. Laut Dr. Svedberg sind sie wahrscheinlich mindestens zwanzig Jahre alt. Daheim in Skopje halten wir nicht viel von Albanern, aber der hier war vielleicht auch kein gewöhnlicher Albaner.«
Ein warmes, aber etwas rätselhaftes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, und sie schüttelte ihr Haar.
»Bis nachher, Henrik.«
Meijtens und Liston blieben schweigend zurück, während man Elenas Absätze auf dem Fußboden des Korridors hörte.
»Von allen Mädchen sind die mazedonischen Mädchen die schönsten«, sagte Liston nach einer Weile mit verträumt eintöniger Stimme. Er schaute in den Korridor hinaus und schien mit sich selbst zu sprechen. Schon in der Schule hatte Liston so vor sich hingemurmelt und war deshalb gehänselt worden, bis ihm die Tränen gekommen waren.
»Wie bitte?«
»Von allen Mädchen sind die mazedonischen Mädchen die schönsten – das ist ein beliebtes jugoslawisches Volkslied. Sie hat es auf unserer Betriebsfeier gesungen.«
Meijtens lachte auf. »Ihr habt hier Betriebsfeiern?«
Liston stierte ihn verärgert an. »Warum sollten wir keine Betriebsfeiern haben? Habt ihr bei eurem Wochenmagazin etwa keine?«
Meijtens hob die Hände in einer entschuldigenden Geste. »Sicher, warum nicht? Ich meine nur, redet ihr über zerstückelte Leichen, während ihr Schnittchen esst und unter dem Tisch füßelt?«
Liston stieß sein patentiertes Schnauben aus. »Wirklich nicht. Redet ihr auf euren Betriebsfeiern etwa über Schriftarten und … und so was?«
Meijtens hob erneut die Hände und lachte.
»Auf unserer letzten Betriebsfeier habe ich mich mit Elena über slawische Sprachen unterhalten und wie sie miteinander verwandt sind. Du erinnerst dich vielleicht noch, dass ich mich für solche Dinge interessiere. Nicht nur für Pathologie und Gerichtsmedizin.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Wenn ich die Person Aron Bektashi mal zusammenfasse«, sagte Meijtens schließlich, »handelt es sich bei ihm also um einen albanischen Staatsbürger, der wahrscheinlich 1938 geboren wurde. In mehreren Phasen seines Lebens wurde er gefoltert, vermutlich im Gefängnis oder woanders, wo er keinen Zugang zu medizinischer Hilfe hatte. Außerdem hat er zeitweise im Westen gelebt, vermutlich vor zwei Jahrzehnten. Er ist durch den Sturz von einer Aussichtsterrasse gestorben, allerdings gibt es keine Anzeichen für Gewaltanwendung im Zusammenhang mit dem Sturz oder andere offensichtliche Ursachen dafür, dass er hinunterfiel. Ist diese Zusammenfassung korrekt?«
Liston seufzte schwer. »Du darfst das nicht schreiben. Du würdest mir schaden. Und ihr.«
»Wie ich schon sagte, ohne eine unabhängige Bestätigung werde ich gar nichts schreiben. Ich
Weitere Kostenlose Bücher