Ein Freund aus alten Tagen
war Albanien zu diesem Zeitpunkt ein isoliertes Land.«
Jakub zeichnete ein plastisches Bild von der paranoiden Angst vor russischen Agenten nach dem Bruch mit der Sowjetunion und dem Fehlen der meisten Konsumgüter. Davon, dass die wenigen chinesischen Berater des neuen kommunistischen Bruderlandes den einzigen Kontakt zur Außenwelt bildeten.
»Er muss zu einer Art politischer Begegnung angereist sein, auch wenn sie geheim gehalten wurde. Sonst hätte man ihn niemals ins Land gelassen. Wahrscheinlich schaffen sie ihn mithilfe eines Arrangements ins Land, das keine unnötige Aufmerksamkeit erregt oder zu Problemen in seinem Heimatland führt. Nun, dann hockt er jedenfalls in Tirana, wohin ihn seine albanischen Freunde inkognito und aus Gründen gebracht haben, die wir nicht kennen.«
Jakub Bem legte eine kürzere Pause ein, und Meijtens fiel auf, dass er sein Hauptgericht bereits verspeist hatte, obwohl er seit Betreten des Restaurants ununterbrochen redete.
Jakub betrachtete ein wenig traurig seinen leeren Teller und sprach mit leiser Stimme weiter: »Jetzt stellt euch einmal vor, wie seine albanischen Gastgeber wohl reagieren, als die Zeitungsschlagzeilen in Schweden verkünden, dass Erik Lindman verschwunden ist. Denn wenn sie schreiben, dass es gute Gründe gibt, ihn zu verdächtigen, ein sowjetischer Spion zu sein, möchte ich in Tirana nicht in Erik Lindmans Haut stecken. Für alles Bier in Pilsen nicht.«
Es sei im Grunde nicht weiter seltsam gewesen, dass Erik Lindman sich entschieden habe, heimlich nach Albanien zu reisen, erklärte Jakub. Angesichts des Misstrauens, das in dem Land herrschte, sowie der angespannten internationalen Lage habe er möglichst wenig Aufmerksamkeit erregen wollen.
Nach einer ausführlichen Diskussion mit dem Kellner über die unterschiedlichen Angebote auf der Speisekarte bestellte Jakub einen Nachtisch. Natalie und Meijtens begnügten sich mit einem Kaffee. Solange der Kellner in Hörweite war, machte Jakub Konversation, dann jedoch setzte er seinen Vortrag fort.
»Aber sein Verschwinden erregte Aufmerksamkeit, und für Erik Lindman da unten in Tirana hätte es gar nicht schlimmer kommen können. Ich fürchte, die Frage, warum er nicht einfach zurückkam, lässt sich damit beantworten, dass sie ihn schlichtweg nicht gehen lassen konnten. Und zwar nicht nur wegen der möglicherweise gefährlichen Kontakte des jungen Schweden zu Moskau. Denn was meines Erachtens ursprünglich geplant war, nämlich ihn ebenso unbemerkt wieder in den Westen zu schaffen, wie er gekommen war, ließ sich auch nicht mehr durchführen.«
Der Kellner kam mit dem Kaffee und Jakubs Nachtisch. Diesmal konnte Jakub sich nicht mehr dazu durchringen, seine Ausführungen durch Konversation zu unterbrechen.
»In Schweden hätten ihn die Medien und der Staatsschutz erwartet, und Erik Lindman hätte erklären müssen, wo er gewesen war und warum. Ich glaube nicht, dass das Regime in Tirana diese Art von Aufmerksamkeit und die Probleme, die daraus möglicherweise hätten entstehen können, zu schätzen gewusst hätte.«
Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist es der Flüchtling in mir, vielleicht sehe ich Komplott und Verrat, wo andere natürliche Umstände und Pech sehen. Aber dieser alte Mann aus Prag hier kann einfach nicht anders, als sich die Frage zu stellen: Warum? Warum kam es auf einmal zu einem solchen Zeitungssturm? Woher rührte das Interesse für diesen jungen Mann, den man mit seinen Ansichten bis dahin doch offenbar in Frieden gelassen hatte? Woher stammten die Informationen über seine angebliche Arbeit für die Sowjets? Informationen, die wir inzwischen als falsch zurückweisen können. Könnte jemand ein Interesse daran gehabt haben, dass Erik Lindman als Gefangener seiner paranoiden Gastgeber in Albanien festgehalten wurde? Der Gedanke quält mich.«
Sie schwiegen eine Weile, dann diskutierten Meijtens und Natalie, wie man herausfinden könnte, was Erik Lindman in Albanien widerfahren war. Jakub lauschte ihrer Unterhaltung, während er mit dem Löffel die letzten Reste seiner Crème brulée zusammenkratzte. Anschließend schob er den Teller von sich und wischte sich mit kurzen, knappen Bewegungen die Mundwinkel ab.
»Ich weiß nicht, ob ihr einen Rat von einem müden, alten Dozenten hören wollt«, sagte er sanft.
Beide betrachten seine Worte als rhetorische Frage und warteten geduldig darauf, dass Jakub weitersprach. Mittlerweile waren sie allein in dem Lokal, und die Bedienung
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