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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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smogverhangenen Nacht war nichts so sichtbar wie ein Acetylen-Schneidbrenner – höchstens vielleicht eine dieser Leuchtkugeln, die sie in Vietnam aus den Gräben abschossen, damit sie zählen konnten, wie viele Zähne jeder Vietcong hatte, bevor sie ihn im Feuerhagel ihrer M16-Sturmgewehre niedermähten. Tierwater hatte das bedacht – und sogar erwogen, lieber bis zum Morgengrauen zu warten, wenn das Licht am Himmel den Widerschein des Schweißgeräts überstrahlen würde –, sich aber doch dafür entschieden. Es war ja niemand hier, und wenn er bis Tagesanbruch wartete, riskierte er, einem übereifrigen Angestellten der Elektrizitätsgesellschaft oder einem braven Bürger mit Hund und einem fotografischen Gedächtnis für Autonummern über den Weg zu laufen. Er bückte sich nach dem Rucksack, hob ihn an und marschierte den Hang hinauf, wo der erste der Strommasten als stählernes Skelett in den Nachthimmel ragte.
    Die Stützträger waren massiver als erwartet. Aber kein Problem, er war auf alles vorbereitet; zum Teufel, er konnte auch die George-Washington-Brücke einstürzen lassen, wenn er nur genügend Zeit, Acetylengas und Sauerstoff hatte. Sein Nacken tat ziemlich weh, als er sich bückte, um die Schläuche und den Sauerstoffregler anzuschließen – die Halskrause scheuerte am Kinn und zwang ihn, den Kopf unangenehm schief zu halten, als müßte er ihn flach auf den Henkersklotz legen oder durch die Öffnung einer Guillotine schieben. Aber der Schneidbrenner ließ ihn den Schmerz vergessen. Er klappte die Schutzbrille herunter, drehte die Flamme auf und durchschnitt den koreanischen Qualitätsstahl, als wäre er allmächtig.
    Tierwater hatte schon immer gewissenhaft gearbeitet – präzise, wo andere im ungefähren verblieben, ein Muster an Konzentration, das sich niemals ablenken ließ, auch als Junge, wenn er auf einem lauten Spielplatz Modelle zusammenbaute oder am Zeichentisch seines Vaters Blaupausen von imaginären Städten malte. Seine Mutter lobte ihn oft für diese bei einem kleinen Jungen so außergewöhnliche Fähigkeit, und Lob erhielt er auch von seinen Lehrern. Von einer Lehrerin besonders, einer Kunstlehrerin in der fünften oder sechsten Klasse – wie hatte sie doch geheißen? –, er sah sie so deutlich, als stünde sie jetzt vor ihm, eine kleine, lächelnde Frau, nicht viel älter als Morty Reichs große Schwester – und diese Lehrerin hatte wirklich geglaubt, er habe Talent, nicht bloß weil er in nur einer Woche perspektivisches Zeichnen gelernt hatte und eine unfehlbar gerade Linie ziehen konnte, so wie die, die er soeben produzierte, sondern auch...
    Er kam nie dazu, den Gedanken zu beenden. Denn in diesem Moment, wenn ihn auch die Halskrause daran hinderte, sich umzudrehen und darauf zu reagieren, spürte er einen Zeigefinger, der ihm fest und unverkennbar auf die Schulter klopfte.
    Diesmal fuhren sie die harte Tour. Der Staat Kalifornien warf ihm schwere Sachbeschädigung in vier Fällen vor, und dann meldete sich die Bundespolizei und knallte ihm die Verletzung der Bewährungsauflagen obendrauf, und das war der herzloseste Stich von allen, immerhin waren zum Zeitpunkt seiner Verhaftung nicht mal mehr drei Wochen übrig. Fred – und auch der Verteidiger, den Tierwater statt seiner anheuern mußte, als Fred sich verabschiedete, sobald er auf Kaution freikam – war machtlos. Die Presse stürzte sich begierig auf den Fall – es war Tierwater, Tyrone O’Shaughnessy Tierwater, der radikale Nudist, der einen Monat nackt in den Wäldern gehaust hatte, mit seiner ebenso nackten, vollbusigen Frau Andrea Knowles Cotton Tierwater, inzwischen ehrgeizige Direktorin und Sprecherin von E.F.!, und hier waren auch die Fotos jener unseligen Aktion, aus den Archiven hervorgekramt und auf Seite eins des Lokalteils nachgedruckt, in beachtlicher Schärfe, Brustwarzen und Genitalien leicht verwischt natürlich, um keine kindlichen Gemüter zu verschrecken. Bei dem Rampenlicht, in dem der Staatsanwalt stand, ließ er sich nicht erweichen. Er brachte Tierwater dazu, sich voll zu bekennen – schuldig in allen vier Punkten –, so kriegte er zwei Jahre für den ersten und je acht Monate für die restlichen drei, nacheinander abzusitzen, und danach müßte er zurück nach Lompoc für weitere sechs Monate im Bundesgefängnis. Tierwater war kein Mathematiker, aber egal, wie er die Zahlen jonglierte, sie ergaben vierundfünfzig Monate – viereinhalb lähmende Jahre.
    Aber es kam noch schlimmer. Er wurde

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