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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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gepeinigte Muskelfasern, Schmerzen im Nacken und in den Schultern, als hätte man ihm eins mit der Dachlatte übergezogen, er war angeschlagen, ja ausgezählt, doch das hinderte ihn nicht, aus dem Wagen zu springen und auf den Idioten loszugehen, der ihn gerammt hatte. Was war nur los mit diesen Leuten? Wie konnten sie so leben? Wußten sie nicht, daß es da draußen eine Natur gab?
    Der Smog war wie Senfgas, er brannte ihm in der Lunge. Überall lag Müll herum, zu beiden Seiten der Ausfahrt verstreut wie die Überreste einer ausgebombten Zivilisation: Dosen, Flaschen, Schachteln vom Schnellimbiß, angepißte Windeln und verrostende Einkaufswagen, Ölfilter, Styroporbecher, Zigarettenstummel. Das Gras war tot, die Oleanderbüsche von Staub begraben. Ein einsamer Eukalyptusbaum, zwanzigtausend Kilometer weit entfernt von dem Kontinent, von dem er stammte, thronte über der Szenerie wie ein Symbol für Trockenfäule. Man hörte ferne Schreie, Flüche, das gellende, nicht einzudämmende Hupen der Autos und Sirenen, die allgegenwärtigen Sirenen, die über alles einen schrillen Grabgesang legten.
    Tierwater riß die Tür des Wagens hinter seinem auf, keinerlei Bedarf an Vernunft, eine Schwelle war überschritten, wieder einmal, Andrea, Teo, die ganze Scheißkloake dieser Menschenwelt, und er war zu allem fähig. Hier, hier in dieser klapprigen, stinkenden, zerbeulten Blechkiste steckte das Gesicht des Feindes, eines spezifischen, unverwechselbaren Feindes wie Johnny Taradash, und er hatte die Linke auf dem Türgriff, die Rechte zur Faust geballt, alle Hupen dieser Welt tröteten... dann aber sah er das Gesicht und hielt inne.
    Es war ein asiatisches Mädchen, siebzehn, achtzehn, nicht älter als Sierra, mit Augen wie der Boden eines Brunnens, drei grellroteStröme teilten ihr Gesicht in ein Delta aus Blut, und obwohl er alles und jeden haßte, obwohl er hinten in seinem Jeep einen Schweißbrenner, eine Sauerstoffflasche und einen Sack mit Siliziumkarbid liegen hatte, griff er in das kaputte Auto, zog sie heraus und hielt sie in den Armen, bis der Krankenwagen eintraf.
    Was bedeutete ihm das? Nichts, gar nichts. Klar, es waren alles Individuen da draußen, Mitmenschen, die für sich genommen Mitleid, Opfer und Liebe verdienten, doch das sprach sie nicht von der Kollektivschuld frei. Es gab zu viele Menschen auf der Erde, bereits sechs Milliarden, und es wurden immer noch mehr, eine uferlose Masse, Menschen wie Heuschrecken, und nichts würde ihren Ansturm überstehen. Tierwater brauchte nicht einmal eine Woche – das Heck des Jeeps wurde provisorisch wieder in Form gehämmert, sein Nacken steckte in einer antiseptischen weißen Halskrause, die wie eine Glühbirne geleuchtet hätte, wäre er nicht mit schwarzer Schuhcreme darübergegangen –, bis er erneut aktionsbereit war. Zuerst jedoch mußte er ein Essen mit Teo, Andrea und drei anderen E.F.!-Obermackern durchstehen, bei dem man Themen erörterte wie die Wählermeinung, den Kongreß, Rundbriefkampagnen und die Möglichkeiten zum verstärkten Ansprechen grün gesinnter Spender. Teo trug einen Vierhundertdollaranzug. Teo. Der Leberkopf . Der saß da, als hätte er die Nominierung zum Senator schon in der Tasche. Teller mit Phat Thai, Ingwershrimps und Glasnudeln kreisten auf dem Tisch. Niemand erwähnte auch nur mit einem Wort die Erde.
    Tierwater entschuldigte sich kurz vor der Nachspeise – »Mein Nacken bringt mich noch um«, sagte er und warf Andrea einen mitleidheischenden Blick zu, »Teo kann dich ja heimfahren, würdest du, Teo?« –, und in nicht einmal einer Stunde parkte er in einer ruhigen Sackgasse in der Siedlung, die höchstens einen Kilometer von dort entfernt war, wo General Electric (oder die Energiebehörde oder sonstwer, das war ihm alles einerlei) im Namen des Fortschritts die Erde aufwühlte. Dort holte er Schuhcreme, Strickmütze und den Rest heraus. Im nachhinein betrachtet, hätte er nicht allein gehen dürfen. Immer zu zweit arbeiten, das war Regel Nummer eins der Saboteure, weil jemand zum Schmierestehen absolut unerläßlich war, besonders wenn man eine Schweißerbrille trug und den Hals nicht mehr als einen Zentimeter in beide Richtungen drehen, geschweige denn über die Schultern blicken konnte. Aber er hatte genug von Regeln und Gesetzen – er hatte seine Schuld bezahlt, mehr als genug –, und er war scharf darauf, wieder im Spiel zu sein, zu handeln, etwas Sinnvolles zu tun. Und er hatte genug, endgültig genug von Andrea und Teo und

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