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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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zwischen den Gitterstäben aufgehängt war, wo der Empfang am besten war, drang das leise Wummern einer Baßgitarre und das hohe, kehlige Keuchen von Maclovio Pulchris beim Absingen des unwiderstehlichen Textes seines aktuellen Hits: I want you, I want you, I want you/Ooo, baby, ooo, baby, ooo!
    »Mann, wie ich diese Scheiße hasse«, sagte Sandman und brachte seinen Läufer in Stellung für den Gnadenstoß – er hatte die Hälfte seiner Figuren noch auf dem Brett; Tierwater waren nur der König, eine bedrohte Dame und zwei Bauern geblieben. »Wenn der den Mund aufmacht, klingt es, als ob er sich gerade angepißt hat.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Tierwater, »mir gefällt das irgendwie.«
    Sandman sah ihn mit ungläubiger Miene an – was er gern seinen »Kater-schnuppert-an-unbekanntem-Arschloch-Blick« nannte –, aber er ließ das Thema fallen. Er besaß das wandelbarste Gesicht, das Tierwater je gesehen hatte, und er setzte es zu seinem Vorteil ein: er schauspielerte praktisch ständig, war allerdings jederzeit bereit, die Darbietung mit brutaler Gewalt zu untermalen, die keineswegs gespielt war. Als Tierwater ihn kennenlernte, war Sandman zweiunddreißig, im Gesicht braungebrannt vom Hofgang, zwei lässig blickende blaue Augen und ein so sorgfältig getrimmter Bart, daß er aussah wie ein Schatten, der seine Kieferlinie nachzog und das kantige Kinn betonte. Er sah gut aus, so gut wie der Typ Schauspieler, der auf die Rolle des gewitzten Erfolgsmenschen abonniert ist und damit sein Geld verdient, und er setzte sein Aussehen geschickt ein. Die Menschen mochten ihn intuitiv, und er nutzte ihre Vorurteile aus – ein schlechter Kerl kann unmöglich so gut aussehen, dachten sie, schon gar kein Verbrecher –, indem er sie überrumpelte. »Ich hab jahrelang vor dem Spiegel verbracht«, hatte er Tierwater erzählt, »bis ich jeden Ausdruck drauf hatte, von ›Komm mir nicht in die Quere‹ über ›Herr Pfarrer läßt die Kollekte herumgehen‹ bis ›Stecken Sie doch bitte alles Geld in diese Papiertüte, bevor ich Ihnen die Fresse wegschieße‹.«
    »Der Text ist vielleicht etwas schwach«, gestand Tierwater ein, »aber bei Pulchris geht’s um den Rhythmus, um nichts anderes.«
    Sandman winkte ab und stürzte sich dann auf das Schachbrett, wo er Tierwaters Dame durch einen schwarzen Turm ersetzte, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. »Ha! Hab sie erwischt, die weiße Schnalle!«
    »Scheiße. Den hab ich nicht gesehen.«
    »Gibst du auf? Und übrigens, wenn wir gerade bei Schnallen sind, wie geht’s eigentlich deiner Ex?« Er beugte sich vor, um die Figuren einzusammeln. »Ich meine, ich hab heute nachmittag gesehen, wie ihr euch ineinander verkrallt habt, aber du hast nicht sehr glücklich ausgesehen...«
    »Und was ist mit deiner eigenen Exschnalle?« Tierwater saß ruhig da und erwiderte Sandmans Grinsen. Andrea war ein Thema, über das er lieber nicht sprach. Oder nachdachte. Es wäre so, als ob man mitten in der Wüste an Wasser denkt oder an Pizza in South Dakota.
    »Hab ich dir erzählt, daß ich fünfmal verheiratet war?« Sandman beugte sich vor und grinste immer noch, seine massigen Oberarmmuskeln spannten sich unter dem dünnen Stoff seines T-Shirts. »Fünfmal, dabei bin ich fast noch ein Kind. Aber die allerschlimmste war die erste: Candy, Candy Martinez, das war meine Flamme in der Highschool. Sobald ich das erstemal in den Bau gegangen bin, ist sie losgezogen und hat jeden Kerl gevögelt, den ich kannte, als hätte sie eine Art Mission zu erfüllen – also, meinen Bruder, meinen besten Kumpel, den Typen von nebenan, Scheiße, Mann, sogar den Werklehrer, dabei war der an die Vierzig, mindestens, und er hatte so gorillamäßige Hände voller schwarzer Haare überall...«
    Tierwater stieß sich hoch und machte zwei Schritte nach rechts, zwei nach links – die Zelle war nur zwei mal zwei dreißig, nicht gerade ein Exerzierplatz. Er mußte sich nur mal die Beine vertreten, sonst nichts. »Danke, Sandman«, sagte er dann mit gespielter Aufrichtigkeit, »danke, daß du dieses Erlebnis mit mir geteilt hast. Jetzt fühle ich mich schon viel besser.«
    Gefängnis. Tierwater stand es durch, und viel mehr war nicht darüber zu sagen. Jeden Tag bereute er, mit diesem Schneidbrenner losgezogen zu sein, aber die Reue ließ ihn noch härter werden, und er hätte es wieder getan, ohne zu zögern – außer daß er diesmal, wie in allen Phantasien und theoretischen Planspielen, natürlich nicht erwischt

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