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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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um darüber zu berichten, denn Sheriff Bob Hicks hat einfach die Abfahrt an der Autostraße gesperrt und läßt niemanden in den Wald – und deshalb war es ein Witz, ein Riesenwitz, die ganze Sache. Er weiß es noch gut: er hockte da wie in einer Bratpfanne, keine Ozonschicht zum Schutz vor der Sonne, kein Wasser, keine Mütze und kein Schatten, und allen Bäumen der Welt drohte die Axt, während in seinem Kopf die Rätselfrage kreiste: Wenn ein Protest im Wald erklingt und keiner da ist, der ihn hört, macht er dann ein Geräusch?

Santa Ynez, November 2025
    Als wir aufwachen, regnet es immer noch – oder als ich aufwache jedenfalls. Ich bin vor ihr wach, lange vor ihr, das ist ja klar. Ich fühle mich richtig historisch dabei. Fühle mich nach Eiern mit Speck, doch diese Nahrungsmittel sieht man nicht mehr allzu häufig (Eier vielleicht noch, aber Speck kann man vergessen), und da liegt ihre Handtasche auf dem Tisch, so groß wie ein Elefantenschädel und vollgestopft mit benutzten Taschentüchern, Kontoauszügen, Kaugummipapier, Schlüsselketten mit lauter Schlüsseln zu Türen von Häusern, die es gar nicht mehr gibt. Ich bin sozusagen Archäologe, der eine Tonscherbe nach der anderen aus dem Misthaufen meines Lebens buddelt. Andrea schläft gern lange. Das kenne ich. Damit habe ich gelebt. Aber über zwanzig Jahre lang gab es das nicht, in meiner Welt nicht. Und nun hatten wir eine, sagen wir mal, interessante Nacht, enorm stimulierend, eingetunkt in Nostalgie und Herzschmerz, eine Nacht, in der letztendlich, wenn auch nur kurz, Sex eine Rolle spielte, und insgesamt kann ich wahrlich nicht klagen. Ich glaube, ich pfeife sogar vor mich hin, während ich zwischen den platschenden Eimern und Dosen in meiner Wohnküche herumhüpfe, um etwas Nettes zum Essen für sie vorzubereiten, wenn sie doch noch aufwacht.
    Wie ich mich fühle? Feucht. Feucht in den Tränengängen und den Keimdrüsen, ich bin aufgequollen wie ein Lungenfisch, der einen ganzen langen staubtrockenen Sommer hindurch im Sand begraben war, bis zu dem Tag, als der Himmel aufbricht und die Welt wieder naß wird. Der Duft des Kaffees trägt mich zurück – selber trinke ich keinen mehr, ist zu teuer und außerdem spielt mein Magen davon verrückt –, und ich spüre, wie ich derart tief in der Vergangenheit versinke, daß ich gleich darin verschwinden werde, ohne daß sich auch nur eine Welle kräuselt. Sie schnarcht. Ich kann es hören – kein leises Einsaugen und Ausstoßen, sondern ein echtes Durchlüften der Atemwege, ein in sich so wahres Geräusch, wie es auch Lily hervorbringen könnte. Der Regen patscht mit seiner breiten Hand aufs Dach, und irgend etwas, das irgendwer irgendwo nicht gut befestigt hat, knallt knapp oberhalb des Fensters gegen die Wand, die Welt erzittert, und Andrea schläft. Es ist ein starker Augenblick.
    Leider dauert unsere Idylle nicht viel länger als diesen Augenblick, denn ehe ich noch überlegen kann, ob ich ihr den Thunfischsalat serviere, den ich die letzten drei Jahre lang für eine besondere Gelegenheit im Lebensmittelkompressor aufbewahrt habe, oder sogar die allerletzte Dose mit Krabben aufmachen soll, weil das Leben ja nicht ewig währt, vor allem, wenn man eine Krabbe ist, klopft Chuy an der Tür. Er ist aufgeregt. Tänzelt herum, bewegt Kiefer, Lippen und Zunge und versucht, ohne Erfolg, mir etwas mitzuteilen. Er trägt weder Mütze noch Mantel, das Haar klebt ihm am Kopf, und sein Blick wirkt so nackt, daß man beinahe durch ihn hindurch auf sein Dursban-verkorkstes Gehirn sehen kann. Wie alt er ist? Er weiß es nicht, erinnert sich nicht einmal an den Ort seiner Geburt, aber das Land, da ist er sich ziemlich sicher – fast »hunnertzehn Prozent, wenn nich hunnertzwanzich« –, war Guatemala. Ich bin nicht mehr so gut wie früher darin, das Alter von Menschen zu schätzen, weil heute alle außer den Altalten für mich jung aussehen, aber ich würde ihn auf vierzig, fünfundvierzig veranschlagen. Jedenfalls steht er vor meiner Tür, und was er mir sagen will, lautet mehr oder minder: »Sind ein paar Leute... Leute da draußen, Mr. Ty...«
    »Was für Leute?« Ich stehe in der offenen Tür, der Himmel ist wie ein umgedrehtes Goldfischglas, riesige Windpropeller fegen Zweige, Papier, Laub über den Sumpf des Platzes vor dem Haus, hinter mir der unerdenkliche Kaffeeduft, der Heizlüfter, mein Bett, Andrea. Chuy hätte ebensogut unter den Niagarafällen stehen können. Meine Hausschuhe sind naß. Der Saum des

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