Ein Freund der Erde
RRRRRrrrrrrrrrrr!
Chuy, so muß ich hier einfügen, ist ein Meister im Aussprechen von Selbstverständlichkeiten, und er gibt genau in diesem kritischen Moment eine Probe seines Könnens: » Yo pienso , sie ist da unter dem Waschbecken, Mr. Ty, das denk ich mir, verdad ?«
Verdad . Zwei glühende Augen, die rötlichen Läufe, das Kratzen der Krallen, die sich in das wellige Linoleum graben, und wieso geht mir dabei eigentlich die Titelmelodie von Frei geboren durch den Kopf wie geistiger Durchfall? Natürlich hat sie den schlaffen Kadaver einer weißen Siamkatze (Lilac Point) im Maul, und das ist gut, denke ich mir, weil sie nicht gleichzeitig kauen und zubeißen kann, oder? »Also gut, Chuy«, höre ich mich sagen, und obwohl es weder meinem Knie noch meinem Rücken paßt, bücke ich mich und schiebe dem Vieh den Stock ins Gesicht, nur den Elektroschock will ich bei der Nässe nicht einsetzen, um ihr keinen tödlichen Stromschlag zu versetzen und mir womöglich auch. Keine Angst. Ich brauche die Füchsin nur zu berühren, schon schießt sie unter dem Becken hervor wie ein Marschflugkörper und perforiert meinen Unterarm mit ihren Fängen und den schmalen Schneidezähnen dazwischen, und ich falle auf meinen Hintern ins Wasser, in dem jetzt die tote Katze treibt, während Chuy mit dem Netz kämpft und Andrea herbeiwatet, um Petunia an den Ohren zu packen. Was ihr auch gelingt. Und das ist ein guter Schachzug, aus meiner Sicht jedenfalls. Ein hervorragender Zug. Weil nämlich die in die Enge getriebene Petunia meinen Arm für genau jene Viertelsekunde losläßt, in der Chuy das Drahtnetz um ihr gefährlichstes Körperteil schlingen kann, und danach ist alles erledigt.
»Ty«, sagt Andrea.
»Andrea«, sagt Ty.
Und dann sind wir unterwegs zur Notaufnahme, wo sie längst eine Trage und einen Tropf mir zu Ehren benannt haben, wir sitzen eng aneinandergeschmiegt da (obwohl Andrea mit der Rechten auf den Druckpunkt vorn an meinem Ellenbogen preßt und Chuy hektisch das Lenkrad bearbeitet wie ein Dursban-verkorkster Rennwagenfahrer), und ich kann mich einfach nicht an den Namen der Frau erinnern, die mit den Bäumen spricht. Jedenfalls wird sie demnächst hiersein. »Ich habe sie für morgen eingeladen«, so drückt Andrea es aus, während Chuy auf der Straße herumschlittert wie ein großer Siamesischer Wanderwels, der Verkehr staut sich bis nach Monterey, und wir fahren rechts raus auf der Bankette weiter, he, Mann, wir schaffen es! »Was meinst du mit ›morgen‹?« frage ich, und sie verstärkt ihren Druck auf die Arterie, die meinen Arm versorgt.
Sie antwortet – und der Wind pfeift dabei, der Olfputt schaukelt, das Blut fließt frei dahin –: »Ich meine den Tag nach heute. Mein Liebster.«
Mexico City, São Paulo, Shanghai, Buenos Aires, Seoul, Tokio, Dhaka, Kairo, Kalkutta, Reykjavík, Caracas,Lagos, Guadalajara, Greater Nome, Sachalinskij, Nanking, Helsinki – diese Städte sind heute alle größer als New York. Sechsundvierzig Millionen Menschen in Mexico City. Vierzig in São Paulo. New York firmiert nicht mal mehr unter den Top Twenty. Und wie fühl ich mich dabei? Alt. Als hätte ich meine Zeit überlebt – und die von allen anderen. Denn die Gegenentwicklung läuft ja bereits – seit längerem sogar. Fressen wir einander eben auf, schlage ich vor – heute abend mein Arm, morgen mittag deiner –, weil es ansonsten nur noch verflucht wenig anderes zu essen gibt. Ökologie! Was für ein Witz.
Das ist keine Predigt. Ich halte keine Predigten. Es ist zu spät dafür, und abgesehen davon hat das Predigen noch nie irgendwas geholfen. Aber eins will ich sagen, der Ordnung halber – die meiste Zeit meines Lebens war ich Verbrecher. Genau wie ihr. Ich wohnte am Stadtrand in einem schicken Dreihundert-Quadratmeter-Haus mit Redwoodwänden und Eichenholzböden und mit einem Ölkessel so groß wie Texas, fuhr einen restaurierten 1966er Mustang zum Spaß und einen Jeep Laredo (außen rot, innen schwarzes Leder) für Fahrten in die Adirondacks-Berge, wo ich meinen dreihundertzwanzig Dollar teuren Eddie-Bauer-Rucksack buckelte und die Gesellschaft von Eichhörnchen, Bisamratte und Iltis genoß.Ich ging ins Fitness-Studio. Ich soff in schicken Kneipen voller Topffarne. Kaufte Schuhe, Jacken, Pullover und Haarpflegeprodukte. Vermutlich war mir vage bewußt – irgendwo weit draußen an der Peripherie meines Verstandes –, was ich dem armen geschändeten Körper der guten alten Mutter Erde antat, ich brachte sogar
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