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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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gebrochenen Arm zurück – nach der schicksalschweren Entscheidung, sich in eine der schlagkräftigeren Auseinandersetzungen seiner Eltern einzumischen. O ja, sein Vater war am Boden zerstört – niemand kannte je solchen Kummer, nicht seit Abraham Isaak opfern mußte –, die Mutter trug eine parfümierte Aura aus Mitleid und Trost, und so stopfte er sich gierig eine um die andere Portion der Butterscotch-Eiscreme hinein, die ihm als Schadenersatz angeboten wurde. Sicher. Aber Gewalt führt zu Gewalt, und auch wenn seine Eltern ihm nie wieder ein Haar krümmten, so schwärte doch dieser teuflische Same in ihm. Das nächstemal war er im Krankenhaus zur Geburt seiner Tochter, an einem Schauplatz von Schmerz und Verzweiflung, voller Frauen, die hinter dünnen, schwankenden Vorhangwänden schrien – »O Gott, o mein Gott!« kreischte eine anonyme Sopranstimme eine geschlagene Dreiviertelstunde –, und mit Jane schaffte er es damals immerhin bis in die Notaufnahme von Whitefish, Montana, aber da atmete sie schon nicht mehr, und alle Macht der Welt konnte... was? Einen Dreck dagegen ausrichten.
    Mit ihm war alles in Ordnung, aber der Arzt – ein blasser kahler Turm von Typ, dem ein dichter schwarzer Pelz aus dem Ausschnitt seines Kittels quoll – wollte ihm ein paar Tests verpassen. Nur um sicherzugehen. Deputy Sheets stand in der Tür, die skelettartigen Züge zu einer angeekelten Miene verzerrt, und überwachte jeden Handgriff des Mediziners. »Mir geht’s gut«, beharrte Tierwater, während der Arzt seine Fieberkurve studierte und dabei auf und ab ging, gefolgt von einer vierschrötigen Krankenschwester. »Ich fühl mich gesund, ehrlich. Ich möchte nur hier raus, okay?«
    Alle drei – Tierwater, der Arzt und die Schwester – sahen gleichzeitig zu Deptuy Sheets. »Mir gefällt Ihr Blutdruck nicht«, sagte der Arzt dann und fuhr wieder herum. Seine Arme waren unnatürlich lang, richtige Affenarme, die Fingerknöchel berührten fast seine Knie, und sogar in dieser Extremsituation mußte Tierwater unwillkürlich darüber nachsinnen, warum eine Spezies, die so frisch von den Bäumen herabgestiegen war, so wild darauf war, sie alle zu fällen. »Er ist bedenklich hoch. Außerdem ersuche ich Sie, den intravenösen Tropf nicht einfach herauszuziehen. Sie sind dehydriert, und wir müssen Ihren Flüssigkeitsstand ausgleichen.«
    Das jagte ihm Angst ein – bedenklich hoher Blutdruck , Onkel Sol, wo bist du? –, aber er kämpfte das Gefühl nieder. »Was erwarten Sie denn? Die haben mich geknebelt und verprügelt und den ganzen Tag in der Sonne schmoren lassen, Ihre...«
    Sheets meldete sich von der Tür. »Niemand hat ihn auch nur angefaßt. Der ist so ein Umweltaktivist, einer von diesen Typen. Aus Kalifornien.«
    Der Arzt bedachte Tierwater mit einem kalten Blick. Josephine County war Holzfällerland, voller Holzfällerfamilien, und diese Holzfällerfamilien zahlten hier die Rechnungen. »Tja, also«, sagte er, und dabei schrammte die große, schimmernde Kugel seines Kopfes beinahe an der Decke entlang. »Sie gehen nirgendwohin...« – ein Blick auf die Kurve –, »Mr. Tierwater. Weder ins Gefängnis noch nach Kalifornien – nicht, bis wir Sie stabilisiert haben.«
    »Aber was ist mit meiner Tochter?« wollte er wissen, und sein Blutdruck stieg davon garantiert noch weiter an, durchbrach das Dach, aber was erwarteten sie denn, diese Arschlöcher? Er hatte Sierra nicht eine Nacht allein gelassen, seit ihre Mutter gestorben war – und wäre er damals nicht weg gewesen, wären er und Jane zu Hause geblieben, wo sie hingehörten, dann könnte auch Jane heute noch am Leben sein. »Darf ich nicht wenigstens einmal telefonieren? Ich meine, was ist denn das hier, der Gulag?«
    Niemand gab sich die Mühe, ihm zu antworten, schon gar nicht der Arzt, dessen massige behaarte Gestalt bereits durch die Tür entschwand, nur die Schwester blieb lange genug, um mit ihren schrundigen kalten Fingerspitzen die herausgerissene Kanüle neu zu setzen. Es war nicht viel mehr als ein Mückenstich, er spürte nur einen kleinen Piks, aber er dachte unwillkürlich, daß sie ihm etwas entnahmen – ihn ausbluteten, Tropfen für Tropfen –, statt ihm etwas einzuflößen.
    Als er wieder erwachte, sah er auf die Uhr, und die Uhr sagte ihm, daß es früh am Morgen war. Er wußte sofort, wo er war, hatte nicht dieses Gefühl der Desorientierung, das er hundertmal in Biwakzelten, Motelzimmern oder auf der brettharten Couch im Haus eines Freundes

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