Ein Freund der Erde
noch den Boden. Und ich? Ich bin auch mit im Bild. Ich bin da, um sie zu verabschieden.
»Also?« möchte April Wind wissen.
Ich versuche ein Achselzucken, aber der Schmerz in den Schultern läßt mich zusammenzucken. Liegt am Wetter. Ich fühle mich zwanzig Jahre älter, als ich bin. »Aus Liebe, denke ich.«
»Es hat sie niemand unter Druck gesetzt, oder? Du jedenfalls nicht?«
Ich schüttle den Kopf, und auch das tut weh. Sie unter Druck gesetzt? Ich gab mir große Mühe, es ihr auszureden, versuchte sie daran zu erinnern, wie weit wir im Siskiyou Forest mit friedlichem Protest gekommen waren, an die triste Abwärtsspirale, die damals in Bewegung gesetzt wurde, aber natürlich wollte sie nicht auf mich hören. Sie kam frisch aus Teos Actioncamp, war verliebt in die Idee des heroischen Opfers und so durchdrungen von den Grundsätzen der Tiefenökologie, daß sie einen ethischen Umgang nicht nur mit Pflanzen und Tieren, sondern auch mit Erde und Steinen forderte. »Erde?« fragte ich. »Steine?« Sie nickte nur. Sie erblühte im Glanz der großen Aufmerksamkeit, sie war nun Leitstern der Bewegung, die Opferjungfrau, die auf einem Baum leben würde, während all die anderen wieder zu ihren Fernsehern und Mikrowellen zurückkehren würden, und ich sah ihr in die Augen und erkannte sie kaum wieder.
»Alles im Ökosystem besitzt seine eigene Integrität«, versicherte sie mir, lehnte sich gegen ihren Baum und nippte an einem Gebräu aus Papaya, Weizengrassaft und Joghurt aus einem grellroten Plastikbecher mit dem Earth-Forever!-Logo darauf (noch so einer von Teos Einfällen, keine Frage, im Marketing war er ein Genie, nie dran gezweifelt: wenn es irgendwo einen Aufhänger gab, Teo hakte garantiert ein). »Wirklich«, sagte sie und sah auf, als die Trommler in einen anderen Gang schalteten und die Tänzer sich beim Klang der Ziegenglocken und Tamburine um die Bäume wiegten, »es geht nicht nur um Wölfe und Karibus und Kraniche – es geht um die gesamte Erde. Ich meine, man muß sich mal überlegen, welches Recht wir haben, den uralten Boden aufzugraben und die Pilze und Mikroben darin aufzustören, die Springschwänze und Asseln und die übrigen Wesen, denn ohne sie gäbe es gar keinen Erdboden, und noch weniger Recht haben wir dazu, Dinge herzustellen und in ihrer Form zu verändern...«
»So wie der Becher da in deiner Hand«, sagte ich. »Oder das Sweatshirt, das dich heute nacht warm halten wird.«
»Kompromisse«, erwiderte sie, »alles Kompromisse.«
Das war im Dezember 1997, am Ortsrand von Scotia im kalifornischen Humboldt County. Ich war damals Exknacki, ein entlassener Sträfling, ein Vater, der nie da war, ein Name auf einer Postkarte, und ich hatte in den vergangenen vier Jahren nicht allzuviel von ihr gesehen. Ich wollte nicht, daß sie auf den Baum stieg – Teo wollte das, Andrea wollte es, die versammelte nordkalifornische Earth-Forever!-Sippe und ihre kunterbunte Anhängerschaft johlten danach –, aber ich war hier, um ihr bedingungslos meine Liebe mitzugeben, Angst um sie zu haben und vielleicht an der langen Schnur, die uns all die Jahre ihres Lebens hindurch verbunden hatte, zu zupfen und sie zu überreden, daß sich jemand anders – eine andere jungfräuliche Prinzessin oder ein forscher Drachentöter – dem Feind ausliefern sollte. Ich wußte: sobald sie einen Fuß auf diesen Baum gesetzt hatte, gehörte sie ihnen.
Die Tiefenökologie – Adat – besagt, daß alle Elemente einer gegebenen Umwelt gleich sind und daß moralisch gesehen keines von ihnen das Recht zur Dominanz besitzt. Wir erhalten die Umwelt nicht für den Menschen oder für den Fortschritt, sondern um ihrer selbst willen, weil die ganze Welt ein lebender Organismus und die Menschheit nur ein geringer Teil davon ist. Aber das erzähle man der Axxam Corporation, wenn sie Tausende Hektar von altem Bewuchs kahlschlägt, um die Börsenschulden zu tilgen, die bei der feindlichen Übernahme von Coast Lumber aufgelaufen sind, und sogleich steckt man in einer philosophischen Zwickmühle. Sie werden fällen, und Earth Forever! wird sie aufhalten, mit allen Mitteln. Deshalb also geht Sierra auf den Baum.
Ich drückte sie an mich, hielt sie fest, solange sie es zuließ. Dann übergab ich ihr einen Rucksack voll mit Müsliriegeln, Trockenobst, Büchern und Klopapier und ging davon, durch die Menschenmenge und in den Wald. Ich konnte es mir nicht leisten, bis zum Höhepunkt dabeizubleiben – der ganze Radau diente dazu, die Bullen
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