Ein Freund der Erde
das Ding von der Wand holt und zu mir herüberschiebt. Ich stütze die Büchse auf der Rückenlehne ab, den Finger am Abzug, den Lauf auf die offene Tür gerichtet, optimale Hyänenhöhe, und nun schleicht sich Chuy – der behutsamste Mensch der Welt, ein Drahtseilakrobat, der über eine Schlangengrube balanciert – zentimeterweise auf die Tür zu.
Ich hab in meiner Zeit schon etliche üble Momente erlebt, schlechte Momente wie kleine Geschosse, abgefeuert von den Schicksalsgöttinnen, aber das hier schlägt jeden davon. Ich bin auf alles gefaßt – jedenfalls so gefaßt, wie man es von einem weitgehend kaputten jungalten Mann mit nachlassenden Reflexen und einem ernsthaften Verlust an Zuversicht erwarten kann – aber da kommt nicht Lily zur Tür herausgesegelt, sondern Mac. Mac . Er trägt seine übliche Tarnung, halb Tambourmajor, halb Gangster aus einem schlechten Schwarzweißkrimi der vierziger Jahre, die Beine gleiten wie an seidenen Schnüren, im Arm hält er einen Stapel bunt verpackter Pakete, und er pfeift – tatsächlich, er pfeift – irgendeine Motown-Melodie aus den Sechzigern. Es dauert einen Augenblick, dann fällt es mir ein – die Supremes: Stop in the Name of Love .
Ich bringe nichts heraus. Aber Chuy, der offenbar nicht imstande ist, die Dinge so kompliziert werden zu lassen wie ich, hat damit keine Probleme. »Mr. Mac«, sagt er und wedelt balancehalber die Seiltänzerarme, »denke ich, Sie passen besser gut auf. Cuidado , wissen Sie?«
Wie gesagt, meine Ohren könnten besser sein, Jimi Hendrix’ Voodoo Chile vibriert für immer in der Cochlea meines linken Ohrs nach, und ich kriege Macs gemurmelte, von Gaze gedämpfte Antwort nicht ganz mit. »Manna mit Marmelade«, sagt er vielleicht, oder auch umgekehrt. Er steht mitten in der Tür, keine drei Meter vom Büchsenlauf entfernt, und ich sehe, wie sich seine Lippen hinter der dünnen Maske bewegen. Inzwischen zittern meine Hände derart heftig, daß ich Angst habe, ich könnte in einem unwillkürlichen Reflex abdrücken, deshalb lege ich das Gewehr weg, richte mich zur vollen Größe auf (was fünf volle Zentimeter weniger ist als in meinen Fünfzigern, noch so eine Demütigung der Langlebigkeit) und ziehe mir die Maske herunter: »Mac, zum Teufel, würdest du bitte aus dem Weg gehen!«
Keine Antwort.
»Es geht um Lily!« rufe ich. »Lily!«
Jetzt eine Pantomime: stolpernde Beine, schwankende Geschenkpäckchen, hervorquellende Augen hinter den silbernen Spiegeln seiner Sonnenbrille – ein Blick über die Schulter, einer zu mir, dann bleiben die Päckchen der Gnade der Schwerkraft überlassen, und Mac ist durch die Tür, knallt sie hinter sich zu wie der letzte Verteidiger eines belagerten Forts. Er ist so verdattert, so konsterniert und ratlos, daß er sowohl Coolness wie Ansteckungsgefahr vergißt und sich in einer hektischen Bewegung Sonnenbrille und Atemmaske herunterreißt. »Was zum...«, sagt er und sucht nach Worten, denn Mac flucht nicht, »ich meine, was zum Henker! Was hab ich mir nur gedacht? Gar nichts hab ich gedacht, Ty, so war’s – ich hab einfach nicht nachgedacht. Nur eben, na ja, immerhin ist Weihnachten, und ich... sie ist doch nicht etwa abgehauen, oder? Ist sie frei?«
Ich zucke die Achseln. »Genau weiß ich es nicht. Aber ich würde sagen: ja, klar ist sie frei. Schon länger sogar.«
Alle drei spähen wir minutenlang in beide Richtungen des langen Korridors, als erwarteten wir, ihren Schwanzbüschel hinter einer der Memorabilienvitrinen hervorlugen zu sehen, die sämtliche Wände säumen. (Keine Ritterrüstungen und gekreuzten Hellebarden hier – dies ist ein Schrein nur für das Genie des Maclovio Pulchris, und das meine ich keineswegs sarkastisch. Er ist ein Genie. Oder war es. Möglich, daß er den selbstvergötzenden Aspekt dabei ein wenig übersteigert hat, das will ich nicht bestreiten. Ist vermutlich eine Frage der Verhältnismäßigkeit, aber hier ist alles pulchrisiert für die Ewigkeit. Er hat nicht nur Fotos und Ölgemälde von sich gesammelt, die einen überall von der Wand her anglotzen, auch jede Schallplatte und CD, die er je aufgenommen hat, wird hier für immerdar zur Schau gestellt, ganz zu schweigen von den Souvenirs, Konzertkarten, T-Shirts, vergilbenden Zeitungsmeldungen und Fanzine-Artikeln, selbst die Klamotten, die er auf der Bühne getragen hat, alles fein säuberlich geordnet und arrangiert nach Veröffentlichungsdatum, Schaffensperiode und Frisurenstil.)
»Ich weiß nicht«,
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