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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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zu holen, und alle diese Leute würden verhaftet werden –, aber ich blieb noch lange genug da, dezent im Hintergrund, um zuzusehen, wie sie sie den Baum hinaufhievten zu der Plattform, die sie fünfundzwanzig Meter über der Erde erwartete.
    Es war kalt. In der Luft lag der Geruch von Regen. Ein dichter werdender Nebel umhüllte die hohen Äste wie ein Gazeschleier, und zwei Vögel flitzten hindurch wie aus einem Gewehr geschossen. Wie kann ich sagen, was ich empfand? Der Flaschenzug quietschte, die Trommler trommelten, und meine Tochter schwebte hinauf in den Dunst, höher und höher, bis die fahlweiße Scheibe ihres Gesichts nicht mehr zu sehen war, und als letztes verschwanden die dunklen, leise schaukelnden Sohlen ihrer Turnschuhe in der Höhe.
    In jener Nacht regnete es. Aber es war kein gewöhnlicher Schauer oder Landregen, es war ein El-Niño-würdiger Guß, ein böser Vorbote des apokalyptischen Wetters der Zukunft, begleitet von starkem Wind und einem Temperaturabfall von gut zehn Grad in einer Stunde. Ich war in einem Motelzimmer in Eureka, wo ich mich durch eine Tüte Doritos und ein Sechserpack Black-Cat-Starkbier (das Lieblingsgetränk der Umweltschützer) arbeitete, während ich auf dem hellgrünen Motelfernseher Humphrey Bogart in Schwarzoliv beim Grimassenschneiden zusah und darauf wartete, daß Andrea und Teo auf Kaution freigelassen würden. Aus dem Nichts kam Wind auf, der Abfall gegen die Tür hageln ließ und an den billigen Alurahmen der Fenster rüttelte. Eine gerahmte Motel-Hausordnung fiel von der Wand und landete mit dem Glas nach oben auf dem Bett, ziemlich genau dort, wo mein Hinterkopf beim Schlafen gelegen hätte. Zuerst ging ich an die Tür, dann überlegte ich es mir und schob die Vorhänge beiseite, um zum Fenster hinauszusehen, gerade als der Regen auf dem Parkplatz explodierte.
    Der Wasserguß war so heftig, daß er das Licht der Lampen auf der Straße dämpfte, und innerhalb von Sekunden spritzte er in tausend dunklen Pinselstrichen vom Asphalt auf, als wäre die Schwerkraft plötzlich umgekehrt worden. Ich hatte drei Bier intus und noch drei übrig, und als die nächste Bö das Fenster nach innen bog, trat ich zurück und setzte mich aufs Bett, in Gedanken bei Sierra auf ihrem Baum. Und wenn nun ein Ast abbrach? Wenn der ganze Baum umstürzte – oder vom Blitz getroffen wurde? Und was war mit ihrer Angst und Einsamkeit? Jetzt waren keine buntgeschminkten Rebellen da draußen, keine Nasenflöter und Trommler, niemand kochte Linseneintopf oder intonierte Parolen – niemand war dort, nicht einmal der Feind. Wer würde ihren Toiletteneimer entsorgen, der sicher längst überlief bei dem vielen Extrawasser? Wer würde mit ihr sprechen, sie trösten und warm und trocken halten?
    Sie war dreißig Kilometer weit weg, auf einem Stück Land, das der Firma Coast Lumber gehörte und von ihr eifersüchtig bewacht wurde – einer hochmißtrauischen, enorm verärgerten Firma, die inzwischen davon Kenntnis hatte, daß auf ihrem Terrain meine Tochter in luftiger Höhe einen der größten und wertvollsten ihrer Bäume besetzt hielt, von wo sie ihnen eine Nase drehte, ein Fanal setzte und ganz allein die Welt rettete – und selbst wenn ich bei dem Wolkenbruch weit genug käme, den Platz zum Parken an der Straße wiederfände und mich durch die Riesenbäume zu ihr durchschlagen könnte, was dann? Sie schaukelte ja nicht in irgendeiner Hängematte – sie befand sich in fünfundfünfzig Meter Höhe, und ich konnte unmöglich zu ihr hinauf. An einem klaren, ruhigen Tag, sicher, vielleicht – her mit Gurt und Jumarschlinge, und ich tue mein Bestes, auch wenn ich zugeben muß, daß ich auf große Höhen noch nie scharf war (an Achterbahnen gehe ich vorbei, und Skilifte jagen mir eine Heidenangst ein). Und bei dem pfeifenden Wind und dem Regen würde sie mich wahrscheinlich nicht von unten hinaufrufen hören. Aber ich würde dort sein. Zumindest würde ich dort sein.
    Ich schrieb einen Zettel für Andrea, ließ den schwarzen BMW aufröhren, den sie gekauft hatte, während ich meine Zeit in Vacaville absaß und Sierra dasselbe in einer anderen staatlichen Einrichtung tat (keine Sorge, es war nur die Uni in Santa Cruz), und fuhr mit den restlichen drei Dosen Starkbier hinaus in das Unwetter. Es war keine Nacht zum Spazierenfahren. Bäume waren umgestürzt, manche hatten Stromleitungen mitgerissen, und obwohl es die ersten schweren Regenfälle des Winters waren, waren die Straßen überflutet und mit

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