Ein Freund der Erde
Welsplatte mit Soße und Füllung bestellt, ein andermal saßen wir in meinem Wohnzimmer und sahen zu, wie der Regen in die Eimer plitschte, während wir eine Ladung der letzten Thunfischdosen auf dieser Welt vertilgen. Wir übersahen das Verfallsdatum und aßen das feste weiße Fleisch mit Kapern und Fladenbrot und einer Schüssel frischem scharfem Chilidressing, das Chuy schnell zusammenrührte, und ich weiß noch, daß wir es mit Sake hinunterspülten, den wir in der Pfanne auf dem Herd angewärmt hatten. Und was lief im Radio? Ranchera -Musik und eine Trip-hop-Version von Stille Nacht . Dieses Jahr ist es anders. Dieses Jahr sind Andrea und April Wind da, und es gibt weihnachtlichen Frohsinn chez Pulchris.
Am Weihnachtstag liege ich wach und warte auf das Morgengrauen, wie üblich, Andrea schnarcht leise neben mir, der Gedanke, eine Nacht lang richtig zu schlafen, ist mir inzwischen ebenso fremd wie die Idee, zu joggen oder arglos in einen Apfel zu beißen, oder mich zu bücken, um mir die Schuhe zu binden, ohne daß mir eine ganze Streichergruppe von Schmerzen ein wahnwitziges Pizzikato die Wirbelsäule rauf und runter spielt. In meinem Alter naht der Schlaf wie ein Schlag auf den Hinterkopf, zu jeder Tages- und Nachtzeit, und man hat besser ein Sofa oder einen Sessel in der Nähe, wenn man ausgezählt wird (und fragt gar nicht erst nach den Altalten – das sind die reinsten Zombies, die auf ihren Vogelbeinen herumtorkeln, mit zwanzig oder dreißig Jahren Schlafentzug, der ihnen aus den Augenhöhlen blutet). Jedenfalls bemerke ich als erstes, daß der Regen aufgehört hat. Kein Prasseln, kein Rauschen, kein statisches Rauschen wie ein Flusensieb im Kopf, nichts als eine zutiefst weihnachtliche Morgenstille, keine Seele regt sich, nicht mal ein Patagonischer Fuchs.
Raus aus dem Bett und hinein in die Klammheit, ein Paar babyblauer Boxershorts rutschen meine unbehaarten Altmännerbeine hinauf und umfangen das schrumplige Spektakel meiner Altmännergeschlechtsteile. Dann die Jeans, das karierte Hemd und die verwaschene Jeansjacke, totaler Grunge-Look, keine Frage. Ich denke an ein Geschenk für Andrea – und ich weiß, daß sie eins erwartet, obwohl sie das während der letzten Woche mit jedem zweiten Atemzug pro forma abgestritten hat (»O nein, nein, Ty, mach dir bloß keine Mühe, wirklich«) –, frage mich, welches Totemobjekt ich aus dem triefenden Haufen meiner Habe wählen oder ob ich irgendwas von Mac erbetteln oder ausleihen soll, das ausdrücken könnte, was ich für sie empfinde. Denn was ich empfinde, ist Dankbarkeit –was ich empfinde, ist eine so tiefe Zuneigung für diese breitschultrige, weggetretene alte Lady in dem Bett zu meinen Füßen, daß es Liebe gefährlich nahe kommt und mehr als Liebe: Vergebung und sogar – darf ich es sagen? – Glückseligkeit. Ich bin wieder verliebt. Ja, das bin ich. Ich stehe da in der Dunkelheit, die Stille ist so tief, daß sie unbezwingbar in meinen Adern pulsiert, die Kraft des unleugbaren Lebens, voll gelebt bis ins letzte Mark des letzten Knochens. Da bin ich mir sicher. Andererseits könnten es auch meine Verdauungsprobleme sein.
Zeitung gibt es natürlich keine bei dieser Überschwemmung, und da auch Zeitschriften aus Materialmangel – an Papier, meine ich – selten sind, ziehe ich mich mit einem schimmelfleckigen Exemplar von John Muirs The Mountains of California aufs Klo zurück. Das ist übrigens ein recht weitläufiger Raum, so groß wie eine normale Apartmentwohnung, samt Sechs-Personen-Whirlpool und einer gefliesten Duschkabine mit Doppelbrause, versenkter Beleuchtung und einer eingebauten Komfortbank, und alles riecht nach Andrea, nach ihrem Parfum, ihren Pudern und ihrer Hautverjüngungscreme. Die Wände sind so gestrichen, daß sie an die Alu-Garagentüren von früher erinnern, zu Ehren der Garagenbands dieser Welt, die Details stimmen bis hin zu den dreidimensionalen Griffen und glitzernden Rostflecken (das Bild von Eddie Vedder von Pearl Jam, Riesenaugen und geblecktes Gebiß, habe ich seit langem zur Wand gedreht, damit ich mein Geschäft in Ruhe verrichten kann). Auf jeden Fall beuge ich mich kurz zum Trinken an den Wasserhahn, nur um mir den Schlafgeschmack aus dem Mund zu spülen, dann lasse ich mich nieder zu einer langen Vorfestmahlsauseinandersetzung mit meinem komatösen Verdauungsapparat. Entspannt, oder bemüht, es zu sein, blättere ich um und lese von phantastischen Wäldern. Diese Baumart steht mehr oder weniger für sich,
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