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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Treibgut verstopft. Ich wich Baumstämmen, Zaunpfählen, Fahrrädern, Surfbrettern, Grillrosten und einer gespenstischen schemenhaften Herde von Rindern mit Metallmarken in den Ohren aus. Und ich kämpfte, kämpfte mich durch, siebenundvierzig war ich, kurzsichtig und voller Wehwehchen und bereits chronisch schwerhörig, das Radio war voll aufgedreht, eine schwitzende Bierdose zwischen meine Oberschenkel geklemmt, die Scheinwerfer erhellten einen langen dunklen Tunnel im Nichts.
    Dreimal verfehlte ich die Abzweigung, die ich suchte, und dreimal mußte ich auf der Straße in einer Suppe aus Schlamm, Steinen und strömendem Wasser wenden, bis ich endlich die Stelle fand, wo wir am Nachmittag geparkt hatten. Das war es alles steinharte Erde gewesen, staubig sogar, aber jetzt war es wie ein Pechsee für Autos, eine im Licht der Scheinwerfer glühende Arena, in der man den Motor heulen und die Reifen durchdrehen lassen konnte, bis sie steckenblieben. Mir war das egal. Sierra war dort auf dem Gipfel des Hügels, im peitschenden Wind, verängstigt und allein – ach was, ebensogut konnte sie fünfundfünfzig Meter hoch in der Luft an einem dünnen Zweig hängen und um ihr Leben ringen. Ich hatte fünf Bier intus. Ich war ihr Vater. Ich würde sie retten.
    Was ich anhatte? Jeans, einen Pulli, ein Paar alte Wanderstiefel, irgend etwas gegen den Regen – ich erinnere mich nicht mehr. Sehr gut erinnere ich mich an den Klang des Windes in den Bäumen, ein Kreischen von brechendem Holz, das lange Krachen abgerissener und niederfallender Äste, das kehlige Gebrüll des Regens, der über den Hügelkamm fuhr und sich die gesamte Natur untertan machte. Ich stand knöcheltief im Schlick, fummelte am Schalter einer unkooperativen Taschenlampe herum, inhalierte Regen und hustete ihn wieder aus, dabei dachte ich an John Muir, den heiligen Narren, der wohl am ehesten die Ursache für diese Unternehmung war. Ein Fuß folgte dem anderen, ich kletterte, dabei war ich nicht einmal sicher, ob ich die richtige Abzweigung, den richtigen Hügel erwischt hatte – ein Weg? Was für ein Weg? –, und ich dachte an Muir, wie er einmal ein nächtliches Unwetter in den Sierras durchgestanden hatte, sich in den höchsten Ästen einer geknechteten Kiefer hatte hin und her schleudern lassen, nur um zu sehen, wie es sich anfühlte. Er versuchte damals nicht, irgendwen oder irgendwas zu retten – er wollte nur den Moment erfahren und erleben, was noch keiner je erlebt hatte, seine Hosiannas an den Windgott und den Regen und das irrwitzige Wirbeln der rotierenden Erde hinausschreien. Er verspürte Freude, fühlte sich verbunden, er hatte Visionen und einen Sinn fürs Mystische. Was er nicht hatte: Black-Cat-Starkbier.
    Ich spuckte aus, um die Kehle freizubekommen, zog die Schultern hoch und kippte mir die letzte Dose rein. Inzwischen war ich auf halber Höhe des Hügels und sicher, daß jeden Augenblick ein abgebrochener Ast aus dem Himmel niederkrachen und mich wie eine Kröte auf dem Boden festnageln würde, und als ich den Kopf zum Trinken in den Nacken warf, trommelte mir der Regen mit stetem, unablässigem Druck gegen die zugepreßten Lider. Drei lange Schlucke, und mein letzter Trost war geleert. Ich zerdrückte die Dose, stopfte sie in die Tasche meiner Regenjacke und ging weiter, ertastete den Weg, denn der matte Strahl der Taschenlampe war in der weiten schwarzen Unendlichkeit dieser Nacht nahezu nutzlos. Ich muß stundenlang herumgeirrt sein, las die Rinde der Baumstämme wie Blindenschrift, und das Traurigste ist, daß ich Sierras Baum niemals fand. Jedenfalls nicht daß ich wüßte. Dreimal stand ich in jener Nacht am Fuß eines Redwoods, der ihrer hätte sein können, die orangerötliche krümelige Rinde im Schein meiner Lampe, eine Brandnarbe in der Borke, die mir irgendwie bekannt vorkam, und allein die Basis dieses Trumms war im Durchmesser so groß wie das städtische Kinderbecken von Peterskill, in dem Sierra mit vierjährigen Gleichaltrigen herumgetollt war, während ich zwischen einer Schar wachsamer Mütter auf der Bank saß und mit einem Auge die Zeitung zu lesen versuchte. Das war ihr Baum, sagte ich mir. Er mußte es sein.
    »Sierra!« brüllte ich, und der Regen warf mir das Wort zurück. »Sierra! Bist du da oben?«
    Ich erinnere mich gar nicht, wie Weihnachten die letzten Jahre war. Einmal – es könnte letztes Jahr oder vor fünf Jahren gewesen sein, keine Ahnung – sind Chuy und ich zu Swensons Kneipe gefahren und haben die

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