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Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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schwarzen Ledermütze und derselben etwas zu kurzen graublauen chinesischen Jacke, das ich schon einmal hier gesehen hatte. Zwischen ihrem Stuhl und der Wand stand eine große Mappe.
    ›Eine Malerin‹, dachte ich.
    Ich ging zu ihr.
    »Entschuldigen Sie, möchten Sie einen ›Keglewitsch?‹«
    Sie blickte neugierig zu mir auf.
    »Gern«, sagte sie. »Und Schokolade, wenn es geht.«
    Ich holte ihr das eine wie das andere. Und für mich bestellte ich einen doppelten Wodka. Ich setzte mich zu ihr, um mich mit ihr zu unterhalten, aber ein Gespräch kam nicht zustande. Sie trank schnell ihren Wodka, die Schokolade steckte sie in die Tasche und schickte sich an zu gehen.
    »Ich habe es noch weit, ich wohne in Borschtschagowka«, entschuldigte sie ihre Eile.
    Allerdings schaffte ich es zu erfahren, wie sie hieß – Anja. Sie war Diplomanwärterin am Kunstinstitut. Irgendwann hatte man mir mal erzählt, daß an diesem Institut keine normalen Menschen zugelassen werden. Jetzt war ich soweit, dem zuzustimmen. Nur mit einer kleinen Ergänzung: Unnormale Menschen sind immer interessanter als normale. Mit ihnen ist es nie langweilig, mit ihnen kann es gefährlich werden, aber nicht langweilig.
    Um halb sieben begann die Kellnerin, mich hinauszubitten.
    »Soll ich nur deinetwegen hier sitzen?!« Sie hob die Schultern.
    Ihr Argument überzeugte mich, und ich verließ das Café.
    Auf der Straße schneite es.

21
    Die einstigen Novemberfeiertage gingen unbemerkt vorbei. Nur als ich am Abend des achten November in meinen Hauseingang trat, stieß ich auf einen betrunkenen Veteranen, der vor dem Fahrstuhl mit seinen Orden klimperte. Er blieb dann so auf dem Treppenabsatz des Erdgeschosses stehen. Der letzte der Mohikaner.
    Als ich aus der Kälte nach Hause kam, bemerkte ich plötzlich, daß es nicht nur draußen kalt geworden war. In der Wohnung war es nur um ein weniges wärmer. Der starke Luftzug, der durch die nicht verklebten Fensterrahmen stürmte, verwandelte sich schon im Korridor in einen Luftstrom, der pfeifend durch die geschlossene, mit schwarzem Kunstleder beschlagene Tür brauste.
    Ich zog meine Daunenjacke aus und machte mich schnell an die Erwärmung meines Heims. Im vorigen Jahr waren die Fenster schon im Oktober verklebt worden, aber da hatte meine Frau auch noch den Haushalt kommandiert. Sie hatte nicht laut kommandiert, aber es war leichter, zu tun, was sie wollte, als danach ihr ostentatives Schweigen auszuhalten. In diesem Jahr hatte mich der Winter plötzlich und in Einsamkeit überrascht. Obwohl die Einsamkeit wechselhaft war wie ein Strom. Manchmal kam Lena-Wika und blieb ein paar Tage. Danach verschwand sie eine Zeitlang, und dann rief sie wieder an, verkündete mit fröhlicher Stimme, daß sie jetzt gleich käme.
    Langsam schmolzen die von der fremden Scheidung übriggebliebenen Dollar dahin. Kostjas Fünfziger rührte ich nicht an, und selbst wenn mein Geld alle gewesen wäre, hätte ich nicht in seine Brieftasche greifen können. Das war fremd, genau wie alle anderen ›Souvenirs‹, die ich an diesem regnerischen Abend mit nach Hause genommen hatte. Ich legte sie oft auf den Tisch, betrachtete den Brief, ohne ihn zu lesen, und das Foto der erschöpften Frau mit dem Kind auf dem Arm. Jetzt, nach all dem, was passiert war, sah sie sicher noch müder aus.
    Manchmal schien es mir, als hätte ich diese Papiere irgendwo gefunden, und ich hatte plötzlich den Wunsch, sie zu der Adresse zurückzubringen, die auf dem Brief stand. Ich konnte mich nicht an den Moment erinnern, in dem ich Kostjas Taschen durchsucht hatte, aber ich wußte, daß ich es getan hatte. Und trotzdem kam immer wieder dieses merkwürdige Gefühl hoch, als wenn das alles gar nicht mit mir geschehen wäre, als wenn ich einfach irgendwo am Straßenrand irgendwessen Brieftasche gefunden hätte, die ich jetzt ihrem Eigentümer zurückgeben müßte. Man könnte sie ja in den Briefkasten werfen.
    Und wieder erschien das Bild der müden jungen Frau mit dem Baby auf dem Arm vor meinen Augen. Ich trank Tee und betrachtete sie, diese Frau. Ich dachte an sie. In dieser ganzen Geschichte war sie die einzige unschuldig Leidtragende. Natürlich gab es da auch noch das Kind, aber bis es verstünde, was es verloren hatte, würden noch ein paar Jahre vergehen. An Kostja dachte ich viel weniger. Die Arbeit, die er sich ausgesucht hatte, hätte ihn früher oder später sowieso ins Jenseits befördert. In diesen Überlegungen konnte man auch noch weitergehen, und

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