Ein froehliches Begraebnis
Hemmungen. Die da sind allzu unverschämt.«
Was dort wirklich vorging, war unmöglich zu verstehen. Von Gorbatschows Gesundheitszustand war die Rede.
»Wahrscheinlich haben sie ihn schon umgebracht.«
Das Telefon klingelte ununterbrochen. Ein solches Ereignis konnte keiner für sich behalten.
Ljuda drehte den Fernseher ein Stück, damit Alik besser sehen konnte.
Sie hatte einen Rückflug für den sechsten September. Sie mußte schnell umbuchen und sofort zurück. Andererseits, warum zurück, wenn ihr Sohn hier war. Sollte ihr Mann lieber herkommen. Aber was sollte sie hier, ohne Sprache, ohne alles. Zu Hause waren ihre Bücher, ihre Freunde, ihre geliebten sechshundert Quadratmeter Garten . . . Ein unentwirrbares Knäuel. . .
»Ich hab doch gesagt, bevor der Vertrag unterzeichnet wird, passiert noch was«, sagte Alik zufrieden.
»Was denn für ein Vertrag?« fragte Ljuda verwundert. Sie verfolgte die politischen Ereignisse nicht, das alles war ihr schon lange zuwider.
»Ljuda, geh Nina wecken«, bat Alik.
Aber Nina kam schon selber angeschlichen.
»Denkt an meine Worte, jetzt entscheidet sich alles«, prophezeite Alik.
»Was entscheidet sich?« Nina war zerstreut und noch nicht ganz wach. Alles, was außerhalb ihrer Wohnung geschah, war für sie gleichermaßen weit weg.
Am Abend war die Wohnung wieder gerammelt voll. Den Fernseher hatten sie aus dem Schlafzimmer geholt und auf den Tisch gestellt; keiner hing mehr an Alik, alle hockten vor dem Fernseher. Was sie sahen, war unbegreiflich: ein marionettenhafter Hampelmann, ein Bademeister, ein Hundegesicht mit Schnauzbart – halb Dämonen, halb Menschen, die reinste Phantasmagorie aus Onegins Traum. Und Panzer. Truppen rückten in die Stadt ein. Durch die Straßen krochen riesige Panzer, und es war unklar, wer gegen wen kämpfte.
Ljuda preßte die Hände gegen die Schläfen und stöhnte.
»Was wird jetzt bloß? Was wird jetzt?«
Ihr Sohn, ein blutjunger Programmierer, hatte heute früher freigenommen, saß nun neben ihr und genierte sich ein bißchen für sie.
»Was wird? Eine Militärdiktatur, was sonst.«
Sie versuchten, in Moskau anzurufen, aber die Leitungen waren besetzt. Wahrscheinlich wählten Tausende in diesen Minuten Moskauer Nummern.
»Seht mal, seht mal, die Panzer fahren an unserem Haus vorbei!« rief Ljuda.
Die Panzer fuhren über den Stadtring.
»Was regst du dich so auf, dein Sohn ist bei dir, bleib doch einfach hier«, wollte Faina sie beruhigen.
»Vater ist bestimmt schon lange in Rente«, sagte Nina zusammenhanglos.
Nur Alik kannte den Zusammenhang: Ihr Vater war ein fanatischer KGB-Offizier mit hohem Rang, er hatte sich von ihr losgesagt, als sie ausgereist war, und sogar Ninas Mutter verboten, ihr Briefe zu schreiben.
»Dieser Saustaat, zum Teufel damit. Und der ganze Wodka ist alle.« Libin sprang auf und ging zum Lift.
Joyka, die ganz gut Russisch lesen konnte, Gesprochenes aber wesentlich schlechter verstand, gingen in diesen Stunden die Ohren auf: Sie verstand jedes Wort des Nachrichtensprechers auf Anhieb. Sie gehörte zu den Sonderlingen, die sich in ein fremdes Land verlieben, ohne es je gesehen zu haben, allein nach altmodischen Büchern, noch dazu in schlechten Übersetzungen. Doch während sie durch eine plötzliche Inspiration den Text des Sprechers verstand, riß Rudy nur die Augen auf, rutschte auf seinem Platz hin und her, zupfte Joyka immer wieder am Ärmel und verlangte nach Übersetzung.
Die Ereignisse in Moskau waren so unbegreiflich, daß wohl alle eine Übersetzung nötig hatten.
Für eine Weile vergaßen sie Alik, und er schloß die Augen. Das Geschehen auf dem Bildschirm nahm er nun als vorüberhuschende Punkte wahr. Jetzt am Abend war er müde, aber sein Bewußtsein war noch klar.
T-Shirt setzte sich zu ihm auf die Sessellehne und streichelte seine Schulter.
»Gibt es dort jetzt Krieg?« fragte sie leise.
»Krieg? Ich glaube nicht. Ein unglückliches Land. . .«
T-Shirt runzelte unzufrieden die Stirn.
»Jaja, das hab ich schon gehört. Arm, reich, hoch-entwickelt, rückständig, das verstehe ich. Aber ein unglückliches Land, was soll das sein? Versteh ich nicht.«
»T-Shirt, du bist ein kluges Mädchen.«
Alik sah sie erstaunt und voller Freude an.
Und T-Shirt erkannte das.
Alle, die hier saßen, in Rußland geboren, verschieden durch Begabung und Bildung, auch durch ihre bloßen menschlichen Eigenschaften, glichen sich in einem Punkt: Sie alle hatten Rußland auf die eine oder andere
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