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Ein froehliches Begraebnis

Ein froehliches Begraebnis

Titel: Ein froehliches Begraebnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Weise verlassen. Die meisten waren offiziell emigriert, manche bei einer Reise einfach hiergeblieben, die Kühnsten illegal geflohen. Aber dieser Schritt einte sie. Wie unterschiedlich auch ihre Ansichten waren und ihr Leben in der Emigration aussah, das hatten sie für immer gemeinsam: Sie hatten eine Grenze überschritten, ihre Lebenslinie abgeschnitten, sie unterbrochen, alte Wurzeln gekappt und neue geschlagen, in anderer Erde, die anders aussah, anders roch und sich anders anfühlte.
    Nun, Jahre später, waren selbst ihre Körper anders zusammengesetzt: Das Wasser der Neuen Welt und deren nagelneue Moleküle bildeten nun ihr Blut und ihre Muskeln, hatten alles Alte, von dort Mitgebrachte verdrängt. Ihre Reaktionen, ihr Verhalten und ihr Denken hatten sich allmählich verändert. Dennoch brauchten sie alle eines: die Bestätigung, daß sie damals richtig gehandelt hatten. Und je vertrackter und unüberwindlicher die Schwierigkeiten des amerikanischen Lebens waren, um so nötiger brauchten sie diese Bestätigung. In diesen Jahren hatten die meisten von ihnen die Nachrichten aus Moskau über die zunehmende Absurdität, Mißwirtschaft und Kriminalität bewußt oder unbewußt als ersehnte Bestätigung für die Richtigkeit ihrer Entscheidung betrachtet. Aber keiner konnte ahnen, daß alles, was jetzt in diesem nun so weit entfernten Land vorging, in ihrem früheren Land, das sie aus ihrem Leben gestrichen hatten – zum Teufel damit! – , ihnen so weh tun würde. Dieses Land saß ihnen in Herz und Nieren, und was immer sie darüber denken mochten, und sie dachten darüber sehr unterschiedlich – ihre Bindung daran konnten sie nicht zerreißen. Es war wie eine Art chemische Reaktion ihres Blutes: Säure, Übelkeit, Angst. . .
    Dabei schien dieses Land schon lange nur noch in ihren Träumen zu existieren. Alle träumten immer wieder ein und denselben Traum, in verschiedenen Varianten. Alik hatte diese Träume mal gesammelt und ein ganzes Heft damit vollgeschrieben, das er »Emigranten-Traumbuch« nannte. Diese Träume sahen so aus: Ich komme nach Hause, nach Rußland, und befinde mich plötzlich in einem abgeschlossenen Raum oder einem Raum ohne Türen oder in einem Müllcontainer, oder irgendwelche anderen Umstände hindern mich daran, nach Amerika zurückzukehren, ich habe zum Beispiel meine Papiere verloren oder werde ins Gefängnis gesperrt; bei einem jüdischen Freund von Alik kam in dieser Situation die Mutter und fesselte ihn mit einem Strick.
    Alik selbst hatte diesen Traum in einer komischen Version: Er ist in Moskau, dort ist alles hell und schön, seine alten Freunde feiern seinen Besuch in einer weitläufigen, verwahrlosten Wohnung, die ihm schrecklich bekannt vorkommt, es ist ein großes Gewimmel und freundschaftliches Gerangel, und dann begleiten ihn alle zum Flughafen Scheremetjewo, diesmal ist alles ganz anders als bei dem herzzerreißenden Abschied vor Jahren, als es für immer und ewig war; es ist schon Zeit, an Bord zu gehen, aber da drückt ihm sein alter Freund Sascha Nolikow plötzlich ein paar Hundeleinen in die Hand, an denen niedliche kleine Promenadenmischungen aufgeregt tänzeln, scheckige kleine Kläffer mit Ringelschwänzchen, und verschwindet. Alle Freunde sind auf einmal weg, Alik steht da mit den Hunden, niemandem kann er diese Meute übergeben; schon ertönt der letzte Aufruf für den Flug nach New York. Ein Angestellter der Fluggesellschaft teilt ihm mit, das Flugzeug sei schon in der Luft. Und er bleibt mit diesen Hunden in Moskau und weiß, daß es für immer ist. Nur eins beunruhigt ihn: wie Nina die Miete für das Atelier in Manhattan aufbringen soll. Und auf einmal riecht es in seinem Traum nach Lift, nach Loft und nach grobem Tabak. . .
    »Sag, Alik, ging es euch dort schlecht?« T-Shirt zupfte wieder an seiner Schulter.
    »Dummchen. Es ging uns prima. Mir geht’s überall prima.«
    Das stimmte. In Manhattan lebte er genauso wie in der Trubnaja in Moskau, in der Ligowka in Leningrad und wie überall, wo er wohnte, egal, ob längere Zeit oder nur für drei Tage. Er lebte sich an jedem neuen Ort schnell ein, kannte bald alle Winkel und Torbögen, die gefährlichen und die schönsten Ecken, wie den Körper einer neuen Geliebten.
    In seiner Jugend war alles in ungeheurem Tempo abgelaufen, aber da er ein aufmerksamer Beobachter war und ein gutes Gedächtnis hatte, vergaß er nichts. Er hätte die Tapetenmuster aller Zimmer zeichnen können, in denen er gelebt hatte, die Gesichter

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