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Ein froehliches Begraebnis

Ein froehliches Begraebnis

Titel: Ein froehliches Begraebnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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in der riesigen Menschenmenge vor dem Weißen Haus nach bekannten Gesichtern, und plötzlich schrie Ljudas Sohn tatsächlich:
    »Papa, guckt mal, da ist Papa!«
    Auf dem Bildschirm war ein bärtiger Mann mit Brille, der ihnen allen bekannt vorkam; er lief direkt auf die Kamera zu, den Kopf leicht zur Seite geneigt.
    Ljuda legte die Hände um den Hals.
    »Ach, Kostja! Ich hab gewußt, daß er dort ist!«
    Inzwischen war schon klar, daß der Putsch gescheitert war.
    »Wir haben gewonnen«, sagte Alik.
    Wieso »wir«, war völlig unklar. Aber es war das gleiche »Wir«, über das sich Vater Viktor bei Kriegsausbruch in Paris immer gewundert hatte. Sein Großvater, ein ehemaliger weißer Offizier, der erst in der Emigration Priester geworden war, empfand damals eine starke Bindung an Rußland; das in den Jahren der Emigration zur Gewohnheit gewordene »Sie« wurde plötzlich zum »Wir«, und siebenundvierzig wäre er beinah zu seinem eigenen Unheil nach Rußland zurückgekehrt.
    Libin stimmte mit Alik ganz und gar nicht überein, wollte aber heute nicht streiten und murmelte nur:
    »Na, das ist überhaupt noch nicht raus, wer wirklich gewonnen hat.«
    Alle waren froh, daß kein Bürgerkrieg ausgebrochen war, daß die Panzer die Stadt verlassen hatten.
    Ununterbrochen liefen die Nachrichten: Auf der Lubjanka war Dzierzynski gestürzt worden, der leere Sockel wurde gezeigt. Das beste Denkmal der Sowjetmacht war nur noch ein leeres Podest. Die Partei – aus Granit, Stahl und Marmor, wie sie selbst sich pries – , zerstob wie Spreu, verschwand wie ein Trugbild.
    Drei Opfer wurden zu Grabe getragen. Drei zufällige Sandkörner, von höherer Hand aus der Menge gegriffen, drei Jungen mit sympathischen Gesichtern: ein Russe, ein Ukrainer und ein Jude. Uber zweien wurde Weihrauch geschwenkt, der dritte war mit einem Tales bedeckt. Ein solches Begräbnis hatte es in diesem Land noch nie gegeben. Und Tausende, Abertausende Menschen.
    Es schien, als sei alles Faule, Kranke und Gemeine, das sich so lange angesammelt hatte, mit einem Schlag zerbrochen und zerfallen und werde wie ausgekippter Unrat, wie ein Haufen stinkender Müll mit dem Fluß weggeschwemmt.
    Auch sie hier in Amerika, die einstigen Russen, freuten sich in völliger Eintracht, und die allgemeine Freude aus diesem Anlaß äußerte sich nicht darin, daß sie mehr tranken als üblich, sondern darin, daß sie die alten sowjetischen Lieder sangen. Am besten sang Valentina:
    »Und alles ringsum ist so blau und so grün,
und fröhlich vorm Hause die Nachtigall singt.«
    In dieser Gegend, in dieser Wohnung war nichts blau und grün, sie alle wußten genau, daß alle Farben in ihrem neuen Land andere Schattierungen hatten, eine andere Intensität, aber jeder dachte an die Farben seiner Kindheit: Valentina an die Institutsstraße in Kaluga, die, von bleichen Linden gesäumt, zur schäumenden blauen Oka führte; Faina an Marjina Rostscha (Alter Moskauer Stadtbezirk) mit den windschiefen Zäunen und den groben, wie mit der Axt behauenen goldenen Kugeln; Alik an die blauen und grünen Moskauer Vororte, an die zutrauliche, zaghafte Farbe der ersten Blätter und des zarten, streifig schillernden Himmels.
    Von unten allerdings drang noch immer die Musik herauf, nicht der übliche lateinamerikanische Salsa, sondern wieder das sinnlose Klopfen und Jaulen. Alik, der auf Musik sehr sensibel reagierte, bat inständig:
    »Libin, geh um Gottes willen runter, und stopf ihnen irgendwie das Maul.«
    Libin schnappte sich Natascha und verschwand.
    Über den Bildschirm zogen endlose Menschenmassen. Auch im Zimmer waren viele Leute, und es schien, als seien sie irgendwie miteinander verbunden. Hin und wieder sah Alik unter den vertrauten Gesichtern um sich herum plötzlich ein unbekanntes auftauchen. Einen kleinen grauhaarigen Greis mit einem Lederriemen um die Stirn und in einem sonderbaren weißen Gewand, aber er sah ihn irgendwie unscharf.
    »Nina, wer ist der Greis?« fragte er.
    Nina war besorgt: Hatte er etwa den Vermieter bemerkt?
    »Der Kleine mit dem weißen Bärtchen.«
    Nina sah sich um – da war kein Greis.
    Die unerträgliche Musik war auf einmal weg. Dafür waren Kinder aufgetaucht, in großer Zahl. Merkwürdige, nicht sonderlich sympathische Kinder, deren Gesichter etwas von kleinen Tieren hatten. Und trotz der späten Abendstunde war es noch immer sehr heiß. Valentina trat zu ihm.
    »Na?«
    »Sing irgendwas Kühles.«
    Sie setzte sich neben Alik, schlang die Arme um sein

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