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Ein froehliches Begraebnis

Ein froehliches Begraebnis

Titel: Ein froehliches Begraebnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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verdorrtes Bein und sang leise und sehr deutlich:
    »Bitterkalter Frost, ach, erbarme dich,
laß mich nicht erfriern hier gar jämmerlich.«
    Valentinas Stimme war tatsächlich kühl und sandte sanfte Wellen aus, wie ein Spielzeugboot, das ins Wasser gelassen wird.
    Alik sah sich selbst: in einen dicken braunen Pelz gehüllt, eine enge Ziegenlederkappe über einem weißen Tuch, um den Mantel den Riemen mit der geliebten Schnalle; er sitzt in einem Schlitten mit halbrunder Lehne, vor ihm laufen Mamas Filzschuhe, und der Saum ihres blauen Mantels schlägt gegen den grauen Filz. Sein Mund ist fest zugebunden mit einem Wollschal, und da, wo seine Lippen sind, ist er naß und warm, aber er muß kräftig atmen, denn sobald er aufhört zu atmen, verklebt eine Eiskruste den warmen Spalt, und der Schal gefriert sofort und pikt.
    Auch die Kinder, die immer mehr wurden, trugen offenbar Pelzmäntel, flauschige, schneebestäubte Pelzmäntel.
    Die Tür klappte. Aus dem Lift stolperte Libin mit sechs Paraguayern. Die Paraguayer sahen fast alle gleich aus, klein, in schwarzen Hosen und weißen Hemden, kleine Trommeln, Rasseln und Klappern in der Hand. Sie kamen herein und lärmten dabei mit ihrer Musik.
    »Nina, und wo kommen die her?« fragte Alik unsicher.
    »Die hat Libin hergebracht.«
    Libin war stockbetrunken. Er trat zu Alik.
    »Alik! Die Jungs sind ganz prima. Ich hab ihnen was zu trinken spendiert. Ich dachte, wenn sie ein Glas in der Hand haben, können sie ja nicht spielen. Exakt. Sind prima Kerle, bloß daß sie nicht Englisch können. Nur einer, der speakt ein bißchen. Aber die andern können nicht mal Spanisch. Nur Guarani oder so ähnlich. Wir haben was getrunken, und ich hab gesagt, mein Freund ist krank. Da haben sie gesagt, wir haben eine spezielle Musik dafür, wenn jemand krank ist. Was sagst du dazu? Ulkig, die Jungs . . .«
    Die ulkigen Jungs stellten sich in einer Reihe hintereinander auf. Der erste, mit einer Narbe quer über das ganze ziegelbraune Gesicht, schlug die Trommel, und die kurzbeinigen Männer liefen mit federnden Schritten im Kreis, wiegten sich rhythmisch und stießen eine Art Seufzerschreie aus.
    Die Mädchen, denen die Musik die ganze Woche auf den Wecker gegangen war, kicherten lautlos.
    Aber hier im Raum klang die Musik ganz anders. Sie war schaurig ernst und hatte nichts mit Straßenmusik zu tun, sondern mit unvergleichlich wichtigeren Dingen. Der Herzschlag kam darin vor, die Atmung der Lungen, das Fließen des Wassers und selbst die knurrenden Laute der Verdauung. Die Musikinstrumente – Herr im Himmel! – waren Schädel und kleine Knochen; um den Hals trugen die Musiker winzige Skelette als festlichen Schmuck. Schließlich verstummte die Musik, aber das Stimmengewirr hatte noch nicht wieder eingesetzt, da machten die Musiker eine Kehrtwende, liefen andersherum im Kreis, und eine andere Musik ertönte, archaisch und unheimlich.
    Ein Totentanz, vermutete Alik.
    Nun, da er den Sinn der Musik entschlüsselt hatte als minuziösen Bericht vom Sterben des Körpers, erkannte er auch, daß der Lauf gegen den Uhrzeigersinn der Prolog zu einem neuen Thema war. Die monotone, wehmütige Musik, die ihn in letzter Zeit so geärgert hatte, war auf einmal klar und verständlich wie ein Alphabet. Doch mitten im Wort brach sie ab.
    Immer neue Gäste kamen hinzu. Alik bemerkte in der Menge Nikolai Wassiljewitsch, genannt Galosche, seinen Physiklehrer aus der Schule, und wunderte sich matt: Sag bloß, der ist auf seine alten Tage noch emigriert? Wie alt ist er denn jetzt? Kolja Saizew, ein Klassenkamerad, der von einer Straßenbahn überfahren wurde, ganz mager, in einer Skijacke, dribbelte mit einem Lumpenball – rührend, daß er den mitgebracht hat. Aliks Cousine Musja, als Kind an Leukämie gestorben, durchquerte das Zimmer mit einer Waschschüssel in der Hand, allerdings war sie kein Kind mehr, sondern ein erwachsenes junges Mädchen. Das alles war nicht im geringsten sonderbar, sondern ganz normal. Alik hatte sogar das Gefühl, als seien frühere Fehler und Irrtümer nun korrigiert.
    Fima trat zu ihm und berührte seine kalte Hand.
    »Alik, vielleicht warst du für heute lange genug auf?«
    »Ja«, stimmte Alik ihm zu.
    Fima hob den federleichten Körper hoch und trug ihn ins Schlafzimmer. Aliks Lippen waren blau und seine Fingernägel violett, nur das Haar leuchtete noch immer in dunklem Kupferton.
    Hypoxie, registrierte Fima mechanisch.
    Nina nahm eine Flasche mit Kräutertinktur vom

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