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Ein ganz besonderer Sommer

Ein ganz besonderer Sommer

Titel: Ein ganz besonderer Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tina Caspari
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man vielleicht später einmal nachholen können. Auch Bille war vor allem neugierig auf den Ort, an dem ihre Vorfahren gelebt hatten.
    Marek hieß der junge Fahrer, der sie in Mutschs Heimatdorf brachte. Er berichtete, dass er immer wieder mal nach Deutschland führe, um dort zu arbeiten. Er studierte Germanistik und Literatur und war darauf angewiesen, nebenher mit Gelegenheitsjobs etwas Geld dazuzuverdienen.
    Sie hatten einen Wald durchquert und sahen das Dorf nicht weit entfernt vor sich liegen. Eine von alten Eichen gesäumte Allee führte zu einer Ansammlung von Häusern hinüber, die im Schatten einer hohen Mauer lagen.
    „Das muss das Schloss sein!“, sagte Mutsch aufgeregt. „Ein uralter Familienbesitz mit einem großen Gutsbetrieb und enormen Ländereien. Das hat man mir zumindest immer erzählt.“
    „Es ist jetzt ein Pflegeheim. Das Gut und die Ländereien wurden nach dem Krieg natürlich sofort verstaatlicht“, berichtete Marek. „Nur den Park hat man erhalten. In welcher Straße haben Sie gewohnt?“
    „Straße?“, fragte Billes Mutter irritiert. „Damals gab es keine Straßen, nur ein paar Handwerksbetriebe, einen Laden und ein paar Häuser, in denen die Leute wohnten, die auf dem Gut arbeiteten. Mein Vater war Hufschmied, nebenher hatten wir ein bisschen Landwirtschaft. Zwei Kühe, Schweine, Hühner, Gänse, einen großen Gemüsegarten . . . Meine Mutter verkaufte das Gemüse auf dem Markt. Naja , und dann gab es noch einen Kartoffelacker und eine Koppel für die zwei Pferde.“
    „Davon werden Sie heute nichts mehr finden. Wer jetzt hier lebt, der arbeitet in Allenstein. Ein paar Hühner, Enten, Gänse, die gibt’s schon noch. Und ein bisschen Gemüse bauen sich die meisten auch an. Aber sonst . . .“ Marek zuckte mit den Schultern. Langsam fuhr er die Hauptstraße hinunter. Rechts und links sah man weiß gestrichene oder grau verputzte Häuser - wie von der Stange. Sie waren vermutlich kaum älter als fünfzehn, zwanzig Jahre. Seitlich zweigten mehrere Nebenstraßen ab, in denen die gleiche Art Häuser standen, ausgerichtet wie eine Kompanie, die zum Appell angetreten war. Es gab eine einfache Tankstelle mit Autowerkstatt, einen Supermarkt und eine Bushaltestelle. Nirgendwo war mehr ein bäuerliches Anwesen zu entdecken.
    „Lassen Sie uns hier aussteigen und ein bisschen herumgehen“, sagte Mutsch.
    Bille spürte ihre Enttäuschung, sagte aber nichts. Mutsch zog ein paar vergilbte Fotos aus der Handtasche und sah sich um. Auf einem war die Schlossmauer in der Ferne zu sehen, die anderen zeigten ein kleines Gehöft, die Schmiede, eine Scheune und einen Stall, vor dem sich ein Misthaufen türmte. Dann gab es ein Bild von einer Bank neben der Haustür. Ein paar Frauen saßen darauf, die Haare unter Kopftüchern verborgen, an denen noch Strohhalme hingen, als kämen sie gerade vom Feld. Es war unmöglich, auf den verblassten Bildchen irgendetwas zu entdecken, was einem helfen konnte, den früheren Standort des Hauses zu finden.
    „Nach dem Krieg stand hier kein Stein mehr auf dem anderen, das weiß ich von meinen Großeltern“, erzählte Marek. „Sie haben hier als Landarbeiter auf dem Gut gearbeitet. Nach dem Einmarsch der Russen sind sie dann nach Allenstein gezogen, da fühlten sie sich sicherer. Sie stammten eigentlich aus der Gegend von Krakau. Da war mein Großvater Lehrer gewesen, bis die Deutschen alle Polen als Fremdarbeiter auf die Güter schickten.“
    Mutsch nickte stumm. Ratlos sah sie ihre Tochter an. Bille musste an den Satz denken, den ihre Mutter vor ein paar Tagen gesagt hatte: Das ist nicht die Stadt, die ich kenne. Auch dies war nicht der Ort, den sie kannte. Ihre wenigen Kindheitserinnerungen und die Erzählungen der Erwachsenen hatten ein anderes Bild gezeichnet. Die strengen Winter. Erntezeit. Angst vor den Gewittern im Sommer. Familienfeste. Der Krieg, der Kanonendonner, der immer näher kam, wochenlang in der Ferne zu hören, bis die Front plötzlich ganz dicht heranrückte.
    Vor allem aber: die Erinnerung an die beiden Pferde. An die Sommerabende, an denen sie mit dem älteren Bruder die Pferde zum Tränken in den Dorfteich reiten durfte. Oder der scharfe Galopp hinaus auf die Felder, sicher gehalten vom Vater, der sie vor sich auf das Pferd setzen musste, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Stunden hatte sie im Stall oder auf der Koppel neben ihren Lieblingen verbracht, Essen und Trinken darüber vergessen.
    Nein, dies war nicht mehr ihr Dorf. Nichts

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