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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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viel Angst hatte, sich selbst zu verlieren.
    »Ich wollte dich nur daran erinnern, dass wir morgen fahren«, sagte sie nach einem Schweigen, das ihr endlos vorkam.
    »Das weiß ich.«
    »Du bist doch zu Hause, oder? Ich denke, die Kinder werden dich jeden Tag anrufen. Sie sind überzeugt, dass du ohne mich nicht leben kannst.«
    »Glaubst du, sie irren sich?«
    Er war ihr so nah, dass sie ihn ohne die geringste Mühe hätte berühren können. Plötzlich sehnte sie sich danach, hielt sich aber zurück. »Was glaubst du?«
    »Wenn du zurück bist, müssen wir reden.«
    »Was ist, wenn …« Das war ihr so herausgerutscht, bevor sie merkte, dass sie etwas sagen wollte.
    »Wenn, was?«
    »Wenn ich dann immer noch nicht weiß, was ich sagen soll?«, fragte sie schließlich.
    »Nach zwanzig Jahren?«
    »Die sind schnell vergangen.«
    »Es ist nur eine Frage, Mere. Liebst du mich?«
    Eine Frage.
    Wie konnte ein ganzes Erwachsenenleben darauf reduziert werden?
    Als sich die Stille unerträglich zwischen ihnen ausdehnte, griff er nach einem gerahmten Foto auf seinem Schreibtisch.
    »Das ist für dich«, sagte er.
    Sie sah es an und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Es war ihr Hochzeitsfoto. Er hatte es all die Jahre auf seinem Schreibtisch gehabt. »Willst du es nicht mehr haben?«
    »Das ist nicht der Grund, weshalb ich es dir gegeben habe.«
    Er berührte ihre Wange ganz sanft und vermittelte ihr damit mehr, als dass sie zwanzig Jahre gemeinsam verbracht hatten, dass sie einander kannten und dass dies Liebe, Leidenschaft und Enttäuschung mit sich gebracht hatte. Sie erkannte, dass er ihr das Bild gegeben hatte, damit sie sich daran erinnerte.
    Sie sah zu ihm auf. »Ich habe dir nie gesagt, dass ich schon immer nach Alaska wollte. Ich glaube, es gibt einiges, das ich dir nie gesagt habe.« An seinem Blick erkannte sie, dass er sie verstand, und plötzlich erinnerte sie sich wieder, wie gut er sie kannte. Er war immer an ihrer Seite gewesen, bei ihrem Collegeabschluss, bei der Geburt ihrer Kinder, beim Tod ihres Vaters. Er hatte einen Großteil ihres Lebens miterlebt. Wann hatte sie aufgehört, ihm von ihren Träumen zu erzählen? Und warum?
    »Ich wünschte, du hättest es mir erzählt.«
    »Ja. Das wünschte ich auch.«
    »Ich schätze, Worte sind wichtig«, sagte er schließlich. »Vielleicht war das deinem Dad die ganze Zeit bewusst.«
    Meredith nickte. Wieso konnte ihr ganzes Leben auf diese schlichte Wahrheit reduziert werden? Worte sind wichtig. Ihr Leben war durch Gesagtes und Ungesagtes geprägt worden, und jetzt wurde ihre Ehe durch Schweigen unterminiert. »Sie ist nicht, wofür wir sie hielten, Jeff. Mom, meine ich. Manchmal, wenn sie uns das Märchen erzählt, ist es, als ob sie … ich weiß nicht. Sie verwandelt sich auf einmal in eine andere Frau. Ich habe fast Angst davor, die Wahrheit herauszufinden, aber ich kann nicht aufhören. Ich muss wissen, wer sie ist. Vielleicht weiß ich dann endlich, wer ich bin.«
    Er nickte und trat näher zu ihr. Dann küsste er sie auf die Wange. »Gute Reise, Mere. Ich hoffe, du findest, wonach du suchst.«

Achtzehn
    Es war einer der seltenen Tage mit strahlend blauem Himmel, an denen der Mount Rainier die Skyline von Seattle dominierte. Die Uferpromenade war leer. Es war noch zu früh im Jahr für Touristen, aber schon bald würden Souvenir-Shops und Fischrestaurants für die nächste Saison öffnen.
    Meredith starrte auf das riesige Kreuzfahrtschiff, das am Pier 66 vor Anker lag. Am Terminal wimmelte es von Passagieren. Lange Schlangen bildeten sich vor der Abfertigung.
    »Seid ihr fertig?«, fragte Nina und warf sich ihren Rucksack über die Schulter.
    »Ich weiß nicht, wie du mit so leichtem Gepäck reisen kannst«, meinte Meredith und zog ihren Koffer hinter sich her, als sie sich einen Weg zu den Gepäckträgern am Ausgang bahnten. Sie gaben ihr Gepäck ab und gingen zur Gangway. Davor blieb ihre Mutter plötzlich stehen.
    Meredith wäre fast gegen sie geprallt. »Mom? Was ist los?«
    Sie zog den schwarzen Wollmantel mit dem hohen Kragen enger um sich und starrte auf das Schiff hinauf.
    »Mom?«, fragte Meredith noch einmal.
    Nina berührte sie an der Schulter. »Du hast den Atlantik mit dem Schiff überquert, stimmt’s?«, fragte sie sanft.
    »Zusammen mit eurem Vater. Aber ich erinnere mich kaum noch daran. Nur dass wir an Bord gingen und es später wieder verließen.«
    »Du warst krank«, bemerkte Meredith.
    Sie sah ihre Tochter überrascht an.

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