Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
Terrasse säßen, bei einem Aperitif oder einem Glas kühlen Weines, während die untergehende Sonne die Elbe in flüssiges Rotgold verwandelte. Dann hätte sie all das gefragt, was eine erwachsen gewordene Tochter von ihrem Vater wissen möchte. Von seinem Leben, dem der Familie, von ihrer Kindheit. An einem mutigen Tag hätte sie nach ihrer Mutter gefragt, nach den guten Jahren und den quälenden ihrer Krankheit. Wie alles gewesen war. Es gab so viele Lücken in ihrer Erinnerung, die gefüllt werden mussten.
Bei Gelegenheit. Auf Gelegenheiten sollte man nicht warten, sondern sie rasch herbeiführen. Das wusste sie nun. Es war zu spät, also musste das Haus zu ihr sprechen, mit allem, was sich darin fand.
Trotz der Kargheit der Aufzeichnungen las sie von einem recht zufriedenen Leben. Häufig tauchten vertraute Namen alter Freunde auf, häufig auch unbekannte. Er war nicht so allein, so einsam gewesen, wie es den Anschein gehabt hatte. Dass er einige lange Reisen unternommen hatte, seit sie im Pensionat in England war, wusste sie. Auch aus Wien oder St. Petersburg hatte er ihr regelmäßig Briefe geschrieben, oder vor sechs Jahren aus Paris zur Zeit der Weltausstellung, wo man auf den höchsten Turm der Welt – aus Eisenfachwerk errichtet und nach seinem Bauherrn La Tour Eiffel benannt – mit einem Lift fahren konnte. Was sie selbst übrigens nie gewagt hätte.
Auch als im Winter vor vier Jahren mit dem luxuriösen Schnelldampfer Auguste Victoria eine reine Vergnügungsfahrt von Cuxhaven aus durch die Meerenge von Gibraltar und kreuz und quer durchs Mittelmeer unternommen wurde, war er dabei gewesen. Die Reise hatte zwei Monate gedauert, und das schwimmende Luxushotel als erstes seiner Art Furore gemacht. Hetty erinnerte sich gut an seine begeisterten Briefe und Postkarten von allen Häfen, auch von dem Landausflug zu den ägyptischen Pyramiden. Heimlich war sie ihm ein bisschen gram gewesen, dass er solche Reisen nicht schon früher und mit ihr gemeinsam unternommen hatte.
Das Tagebuch hatte er nie mitgenommen. Darin stand dann etwas wie: Morgen Abreise nach Paris, Schlafwagen gerade noch ergattert, Gepäck vorausgeschickt, retour in fünf oder sechs Wochen . Oder: Sommerfrische, diesmal Norderney, nur drei Wochen .
Auch Notizen über seine Lektüre, die ihm doch so wichtig gewesen war, fand sie nicht. Nur ab und zu ein Stichwort zu einem Artikel aus dem Hamburger Fremden-Blatt , einige Male auch aus dem Hamburger Echo , der der Sozialdemokratie nahestehenden Tageszeitung. Eine Saison lang hatte er regelmäßiger als sonst üblich das Altonaer Stadttheater in der Königstraße besucht. Wenn sie richtig zwischen den Zeilen las, lag das an einer auffallend en passant erwähnten Dame, die dort ebenso regelmäßig auftauchte, ob auf der Bühne oder in einer Loge, blieb ungewiss.
Er hatte stets notiert, wenn ein Brief von ihr gekommen war, seiner fernen Tochter. Einmal, er musste besonders weicher Stimmung gewesen sein, hatte er dem Buch anvertraut, wie sehr er bedauere, dass er seinem einzigen Kind nicht das hatte geben können, was ein kleines Mädchen brauchte, obwohl er es so sehr liebe. Und wie dankbar er Marline S. sei, dass sie stets versucht habe, seinem Kind den Verlust der Mutter auszugleichen.
Das war einer der Absätze, die Hetty spüren ließen, dass sie einander bei aller Ferne und Sprachlosigkeit doch nah gewesen waren. Sie hätte gerne immer weiter gelesen, glücklich, dass sie den Mann mochte, den sie hinter diesen Zeilen entdeckte. Nur die Tagebücher der letzten drei Jahre standen noch ungelesen im Regal, als Frau Lindner mit einer Nachricht vom Gasthaus Jacobs kam. Die Hausdame der Grootmanns hatte angerufen, der Kutscher sei unterwegs, Frau Winfield abzuholen. Man bitte zu entschuldigen, aber sie werde dringend erwartet. Frau Grootmann senior sei aus Nizza zurück und bestehe darauf, Frau Winfield gleich zu begrüßen.
Die alte Wilhelmine Grootmann war Onkel Friedrichs Mutter und Hetty kaum vertrauter als die Kaiserin in Berlin. Sie erinnerte sich vage an eine misslaunige strenge Dame in strengen Kleidern, die mit schmalen Lippen auf das kleine Mädchen Hetty hinuntersah. Eindeutig strafend. Als sie darüber nachdachte, während Brooks sie flott nach Hamburg und zur Außenalster kutschierte, fand sie das zum ersten Mal erklärlich.
Wilhelmine Grootmanns Ehemann hatte ihr Leben wahrlich nicht zum Vergnügen werden lassen. Das Porträt des alten Henry (nur seine Frau hatte ihn
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