Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
Hetty sich, wo Alma Lindner ihre freien Tage oder Stunden verbringen mochte. Sie hatte keine Ahnung. Frau Lindner animierte nicht zu privaten Gesprächen.
Während der letzten Tage hatte Hetty das Haus bis unters Dach erkundet. In ihrem Zimmer war noch alles so wie vor sieben Jahren, im Schrank hingen sogar Kleider aus ihren Backfischjahren, die sie nicht hatte mitnehmen wollen. Unter dem Dach hatte sie in großen Pappschachteln ihre alten Spielsachen entdeckt, die komplette Puppenstube samt winzigem Geschirr, Federball- und Krocketschläger, Schlittschuhe für kleine Füße, längst vergessene Puppen und Puppenkleider, sogar den ramponierten Zauberkasten, Bauklötze samt Türmchen und Torbögen und das kleine Pferdegespann mit dem Ackerwagen, ein weißes Korbwägelchen, sogar eine Blockflöte und zerfledderte Notenhefte. Sie hatte vergessen, wie reich ihre Kindheit gewesen war.
Da hatten auch zwei Schrankkoffer mit wunderbaren Kleidern gestanden, Schachteln mit Schuhen und Hüten, in hübschen Kartons und Seidenpapier, Wäsche und ein Negligé, Handschuhe und Seidenstrümpfe. Sie hatte geglaubt, einen Duft zu erinnern, aber von Mama war nicht einmal der Duft geblieben.
Am späten Nachmittag entdeckte sie im Sekretär ihres Vaters die Briefe, die sie ihm im Lauf der Jahre geschrieben hatte. Er hatte alle aufgehoben und sie in ordentlicher Reihenfolge aus jedem Jahr mit einer weißen Kordel gebündelt. Auch das war ihr ein Beweis, wie lieb sie ihm gewesen war. Irgendwann wollte sie ihre Zeilen als Boten aus der Vergangenheit lesen. Irgendwann, wenn sie sehr alt war.
Am Abend hatte sie weiter in seinen Tagebuchnotizen gelesen, nur ein Heft fehlte ihr jetzt noch. Die letzten Einträge, die sie las, stammten aus den Wochen etwa ein Jahr nach ihrer Hochzeit und waren tief beunruhigend. Ein wenig kryptisch in der Bedeutung, dennoch bargen sie mit dem, was sie nun wusste, deutliche Hinweise. Danach hatte Thomas ihrem Vater ein wirklich ‹schwindelerregendes› Geschäft angetragen. Nach langem Zögern sei er aber jetzt gut beraten worden, er beginne, dies Unternehmen mit anderen Augen zu sehen. «Es ist ein Risiko, nahezu nach dem Prinzip alles oder nichts. Deshalb gut abzuwägen. Es prickelt!»
Dann folgte wieder Alltägliches, nichts mehr über Geschäfte oder Geldanlagen, nichts mehr über Thomas. Oder über sie, seine Tochter.
Es war schon spät, aber alle Müdigkeit war verflogen. Hetty kletterte wieder auf die Leiter, zog die letzte Kladde aus dem Regal – sie war leer. Keine einzige Linie war beschrieben. Also war es eine, die er schon für die Zukunft gekauft hatte. Aber was war mit den letzten – sie rechnete schnell –, mit den letzten zehn oder zwölf Monaten? Er hatte sie in dieser Zeit einmal in Bristol besucht, stets allerbester Stimmung. Es war unwahrscheinlich, dass er so abrupt aufgehört hatte, seine Tagebuchnotizen zu schreiben.
Sie sah sich um und versuchte sich zu konzentrieren. Ihr Blick lief Buchrücken für Buchrücken an den Reihen des großen Regals entlang, für die beiden obersten stieg sie wieder auf die Leiter: nur gebundene Lektüre. Außer den schon entdeckten keine weiteren gebundenen Kladden. Nicht eine.
Der Schatten im Garten. Plötzlich war das Bild wieder da, auch das Gefühl der Starre und Kälte. Wenn das, was sie in ihrer ersten Nacht in diesem Haus so erschreckt hatte, doch keine Einbildung gewesen war? Doch kein Trugbild, keine Angstphantasie ihrer überreizten Nerven? Wenn tatsächlich jemand eingestiegen war? Und später, als sie nach dem Fieber zurückgekehrt war, der nur angelehnte Fensterflügel im Bilderzimmer? Wenn es mit Absicht …
Nein! Sie würde jetzt nicht hysterisch werden. Sie war eine vernünftige erwachsene Frau. «Ganz ruhig», befahl sie sich und ihrem flatternden Herzschlag. «Ganz ruhig nachdenken. Und mit Vernunft.»
Wie hatten die Kladden gestanden, als sie sie entdeckte? War da eine Lücke gewesen? Das wäre ihr ganz sicher aufgefallen. Gut, da war also keine Lücke gewesen. Aber sie hatte nicht nachgesehen, von welchem Datum die letzte, die aktuellste Kladde in der Reihe war. Es war viel wahrscheinlicher, dass jene, die er Tag für Tag mit seinen Notizen füllte, nicht ganz oben im Regal stand, sondern griffbereit lag. Er konnte nicht damit gerechnet haben, dass jemand sie stehlen wollte. Oder darin lesen. Wer? Frau Lindner? Wer kam sonst ins Haus? Die Grootmanns? Nur Onkel Friedrich. Birkheim? Dr. Finke?
Das war alles lächerlich. Wenn es
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