Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
die Kladde als letzten Band gab, und daran zweifelte sie nicht, war sie irgendwo im Haus. Also: Wo konnte sie sein? Nicht im Sekretär, dessen Fächer hatte sie längst auf der Suche nach jeweden Erinnerungen an ihn durchgesehen, selbst das Geheimfach, das leer war und auch zu kurz, die große Kladde zu fassen. In seiner Schlafkammer? Die war erstaunlich karg für einen Mann, der Genuss und Komfort so liebte.
Hatte er das Tagebuch dort versteckt? Wovor, besser: vor wem? Und besonders: warum? Wo versteckte man so etwas? Unter dem Bett? In einer Hutschachtel? In den Dachsparren? Es gab tausend Möglichkeiten. Dabei konnte man nur mutlos werden, und genau das wurde sie nun. Was sie zugleich erleichterte, denn wer mutlos war, gab leichter auf. Bis vor wenigen Wochen war sie an ein ruhiges, ereignisloses Leben gewöhnt gewesen, nun war ihr ganz wirr im Kopf. Wie auf einem Karussell, bei jeder Drehung neue Bilder, neue Gesichter. Hilfreiche Hände, die sich ihr entgegenstreckten – nach welcher sollte sie greifen? Niemandem hatte sie mehr vertraut als Thomas, abgesehen von Marline natürlich, aber die war weit weg. Wenn sie nun erkennen musste, dass ihr Vertrauen in Thomas Illusion gewesen war, wem konnte sie dann trauen? Alle waren so freundlich, aber das war Thomas auch gewesen. Dennoch musste sie wissen, was geschehen war, Mutlosigkeit half keinen Schritt weiter. Wenn gerade dieser wahrscheinlich letzte Tagebuchband fehlte, wenn er verschwunden war, musste er besonders wichtig sein. Oder nicht? Vielleicht argwöhnte sie durch Thomas’ schrecklichen Tod, durch all die damit verbundenen ungelösten Rätsel überall böse Gespenster.
Hetty sank in den Ledersessel und schloss die Augen, was sich sehr angenehm anfühlte. Denn nun war es genug. Sie öffnete die Augen und sagte laut zu sich selbst: «Sei nicht albern.»
Sie stand auf, schloss das Fenster, das noch einen Spalt offen gestanden hatte, und ging hinauf in ihr Zimmer. Morgen war ein aufregender Tag, höchste Zeit, schlafen zu gehen. Irgendwo musste das letzte Notizbuch stecken, wenn es nicht gestohlen worden war, fand sie es. Morgen. Oder übermorgen. Gestohlen – was für eine Idee.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, war ihr erster Impuls, noch einmal in die Bibliothek zu laufen, womöglich hatte sie gestern mit den längst müden Augen nicht genau genug hingesehen. Das kam ja vor, dass man etwas direkt vor der Nase hatte und doch nicht fand. Aber die Zeit war knapp und der Weg von Nienstedten zum Hamburger Glockengießerwall kein Katzensprung. Papier ist geduldig, behauptete ein altes Sprichwort. Das meinte eigentlich darauf notierte Lügen und Täuschungen, sicher traf es auch auf eine im Verborgenen wartende Tagebuchkladde zu.
Montag
Fräulein Röver blickte ihrer neuen Elevin kritisch über die Schulter. Immerhin wusste sie geschickt mit dem Kohlestift umzugehen, der hier dem härteren Bleistift vorgezogen wurde. Der Unterricht in diesem englischen Pensionat konnte nicht ganz schlecht gewesen sein, obwohl man dort in der Provinz kaum den impressionistischen Stil geübt hatte.
Dem ersten Schritt, dem Zeichnen von Stillleben und Pflanzen für Ornamente, folgte das Üben verschiedener graphischer Techniken, auch Porzellanmalerei, endlich die Arbeit mit Aquarell-, Tempera- und Ölfarben, Landschaftsmalerei und die Darstellung von Menschen nach Gips- und lebenden Modellen. Vertiefung aller Techniken und Weiterentwicklung der eigenen Fertigkeiten folgte in speziellen Kursen.
Fräulein Rövers Unterricht, ihre ganze ‹Malschule›, stand für eine freiheitliche Auffassung der Kunst und ihrer Ausübung, was gleichwohl ein gründliches Üben der Techniken einschloss. Daran konnten nur Ignoranten zweifeln. Das Sehen, das genaue Hinschauen, das Übersetzen der realen Natur in Abbilder, Formen und Ausdruck, endlich in die Impression, die Wahrnehmung und Interpretation des Künstlers, fiel nicht einfach vom Himmel, alles musste geübt werden, gelernt. Auch wenn das von dummen Schreihälsen, leider auch aus maßgeblichen Bürger- und Honoratiorenkreisen, bestritten wurde. Zum Glück gab es auch kunstsinnigere Gemüter in der Stadt, nicht nur in den Ateliers, auch in Häusern so gebildeter wie betuchter Bürger.
«Wie ich sehe, haben Sie Ihren Farbkasten und die Mischpalette mitgebracht.» Fräulein Röver zog einen Hocker heran und setzte sich neben ihre Schülerin. «Lassen Sie mal sehen.»
«Es ist nur eine Auswahl an Aquarellfarben.» Hetty klappte den
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