Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
oder später, da vertat so einer sich leicht. Aber er glaubte nicht daran und nickte nur, als bald darauf die Bestätigung für Weiberts plötzlich aus dem Rest seines Genever-Nebels aufgetauchte Erinnerung vom Seemannshaus kam. Die ‹Buchführung› in der Krankenabteilung bezeugte zuverlässig, dass Knut Weibert in dieser Nacht unmöglich am Meßbergbrunnen gewesen sein konnte. Ob mit oder ohne Messer.
Blieb immer noch eine Frage: Wo war Winfields Uhr? Weibert hatte sie nicht bei sich gehabt, die habe man ihm geklaut, hatte er gejammert, ein armes Schwein wie ihn zu beklauen, das sei nun wirklich das Letzte, aber so sei die Welt. Schlecht, ganz schlecht.
Die Suche nach der Uhr war unangenehm und blieb erfolglos. Unangenehm, weil es weder ein Vergnügen war, die vor Schmutz starrenden Kleider eines armen Säufers zu durchsuchen, noch seine Kammer unter einem Dach in der Deichtorstraße. Das hatte Ekhoff Henningsen und Schütt überlassen. Schütt hatte die Erfahrung, und Henningsen sollte was lernen. Mit der Erfolglosigkeit hatte Ekhoff auch diesmal gerechnet. Weibert mochte dumm und verwahrlost sein, aber nicht dumm genug, eine goldene Taschenuhr, von der sicher sein ganzes Viertel sprach, in den Kleidern oder unter seinem Strohsack zu verstecken, als gute Gelegenheit für jeden nur halbwegs geschickten Dieb oder Schläger.
Sonntagabend
Am Abend waren dunkle Wolken mit schmutzig gelben Rändern aufgezogen, der Wind hielt still, die Luft stand klebrig. Die Vögel, selbst die unermüdlichen Mauersegler, hatten sich in die Baumkronen und Hecken zurückgezogen. So nah an der Küste konnte das Wetter sich schnell ändern, der Himmel schlagartig wieder aufklaren, aber jetzt war er dräuend wie in der Ruhe vor einem Sturm.
Alma Lindner gefiel das. Sie lebte so zurückgezogen, da boten solche Stunden eine Prise Unruhe, die jeder Mensch braucht. Zudem eilten selbst die wenigen, die überhaupt um diese Stunde noch die Gräber besuchten, nach Hause. Auch sie ging rasch, aber sie atmete frei.
Die Kränze und Blumengebinde auf dem Familiengrab der Mommsens wurden welk, sie überlegte, zumindest die unansehnlichsten zur Unrattonne zu bringen. Eigentlich war das Sache des Friedhofsgärtners. So kühl entschieden sie in der gelben Villa am Hochufer agierte, so bemüht war sie in der Öffentlichkeit, alle gesellschaftlichen Grenzen zu wahren. Außerhalb der Mommsen’schen Hecken machte Alma Lindner sich so unsichtbar wie möglich. So wie ein Reh im Dickicht bleibt, wenn der Jäger nah ist.
Ein schöner Friedhof sei der beste Ort, wenn man seinem Leben ein Ende setzen wolle, hatte sie einmal gehört. Man sei gleich an der Endstation, und ein Gottesacker unter alten Bäumen und von Hecken geschützt sei ein Ort der Melancholie und des Friedens. Dort lasse es sich friedlicher sterben.
Alma Lindner hatte diese Bemerkung nie vergessen. An jenen Tagen und in den endlosen Nächten, als sie sicher gewesen war, keine Zukunft mehr zu haben, hatten diese Worte ein Versprechen bedeutet. Und dann, in einer der düstersten dieser Nächte, waren Resignation und Sterbensmüdigkeit in die Wut umgeschlagen, die dahinter schon lange lauerte. Viele hatten im Gefängnis behauptet, sie seien unschuldig und zu Unrecht hier. Sie war es tatsächlich gewesen.
Sie hatte weder gestohlen noch betrogen, sie war selbst die Betrogene. Das Unerträglichste daran war, dass der Mann, dem sie ihre Liebe und ihr blindes Vertrauen geschenkt hatte, ihre Unschuld hätte bezeugen können, sich aber nur feige weggeduckt hatte. Seine Ehefrau war stärker gewesen. Niemand glaubte, dass diese ehrbare bremische Bürgersfrau ihre Wirtschafterin fälschlich des Diebstahls und der Hehlerei bezichtigte und die Beweise selbst in deren Schrank gelegt hatte.
Andere Frauen landeten nach der Haft in wahrer Fronarbeit oder auf der Straße. Alma Lindner hatte nach ihrer Entlassung dank seiner diskreten Fürsprache wieder ehrbare und saubere Arbeit gefunden, das kam einem Wunder gleich und machte ihre Demütigung noch größer. Sie musste trotzdem dankbar sein – sie war es und hasste es. Die Wunde in ihrer Seele wurde erst kleiner, als ihr neuer Dienstherr sich als ungewöhnlicher Mann erwies. Er musterte sie genau, dann stellte er sie ohne viele Fragen ein, zahlte einen guten Lohn und behandelte sie, wie es einer fähigen und unbescholtenen Hausdame zukam. An einen Friedhof hatte sie erst wieder nach seinem Tod gedacht.
Und jetzt? Was sollte jetzt geschehen? Wohin konnte
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