Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
«ich sitze hier ja nur müßig herum. Und ich freue mich, dass wir uns endlich kennengelernt haben», wandte sie sich an die Zwillinge, die sie, offenbar unbeeindruckt von der Aufgeregtheit ihrer Mutter, weiter mit ruhigem Interesse musterten. «Ihr könnt Hetty zu mir sagen.»
« Tante Hetty», insistierte Mary, es klang mehr nach Automat als nach Überzeugung. «Pardon, Henrietta, ich darf keine Nachlässigkeiten dulden. Meine Kinder müssen lernen, sich so zu benehmen, wie es in unseren Kreisen erwartet wird. Was soll sonst aus ihnen werden? Jetzt fasst euch brav an den Händen und geht ganz manierlich – mein Gott! Wo sind eure Schuhe!? Haben Sie ihnen erlaubt, die Schuhe auszuziehen, Henrietta? Das geht nicht. Ich muss Sie leider bitten …»
«Ach, Mary.» Lydia Grootmann war von allen unbemerkt herangekommen. Ihr Gesicht verriet Beherrschung; wer sie sehr gut kannte, hätte die Anstrengung bemerkt, die es sie kostete. Ob eine ungeduldige und gar scharfe Bemerkung oder einfach ein Lachen unterdrückt wurde, war allerdings schwer zu beurteilen. «Es ist ein warmer Tag, Mary, da ziehen alle Kinder gerne ihre Schuhe aus. Nicht wahr, ihr beiden? Aber nun tut, was eure Mutter sagt, lauft und sammelt eure Schuhe ein, zieht sie an und, ja, und tut, was eure Frau Mama sagt.»
Lorenz nickte brav, griff nach der Hand seiner Schwester, aber die entzog sie ihm energisch. Ihre himmelblauen Augen wurden dunkel. «Aber wir haben noch gar nicht gehört, warum Hetty …»
« Tante Henrietta», flüsterte Mary, ohne ihrerseits gehört zu werden.
«… so krank war und warum sie so lange geschlafen hat. Lorenz ist auch traurig, sein Frosch ist tot, er mag aber nicht schlafen.»
Lydia lächelte, Mary schwieg, Hetty sah von einer zur anderen. Sie entdeckte, dass Lydia nicht allein gekommen war. Im Schatten der Hecke stand ein Besucher, diskret einige Schritte Abstand wahrend und so nicht zu erkennen.
«Das mit dem Schlafen und der Traurigkeit wird eure Mama euch vielleicht erklären, wenn ihr brav Schuhe und Strümpfe wieder angezogen habt», schlug Lydia vor. «Was meinst du dazu, Mary? Ich möchte deinen Entscheidungen keinesfalls vorgreifen.»
«Natürlich. Die Schuhe. Verzeihen Sie noch einmal die Störung, Henrietta, und ich wollte Ihnen wirklich nicht unterstellen, Sie mischten sich in meine Belange. Es war nur – ach, verzeihen Sie. Wir müssen gehen. Wir erwarten den Klavierlehrer, und Lisette hat wieder nicht genug geübt. Man kann nie früh genug anfangen mit der Musikerziehung, nicht wahr? Nie früh genug. Das ist so wichtig. Mach deinen Knicks, Lisette, und Lorenz, wo ist dein Diener, na? Wir wünschen einen schönen Nachmittag.»
Ihre linke Hand nahm die ihres Sohnes, die rechte die ihrer Tochter, so machten sie sich auf die Suche nach den Schuhen. Mit etwas Glück fanden sie auch die Strümpfe. Und Nurse Studley.
Lydia Grootmann sah ihrer Schwiegertochter und ihren Enkelkindern nach und fragte sich, ob sie doch den falschen Ton getroffen hatte. Diese Sorge war ihr, die im Ruf stand, immer die Contenance zu wahren und das feine Gespür für den richtigen Ton in der richtigen Gesellschaft zu haben, fremd gewesen, bis Mary in ihr Haus kam und zum Familienmitglied wurde.
Die Grootmanns waren glücklich, als Ernst sich damals entschloss, Mary Zehlendorp zu heiraten. Überhaupt zu heiraten. Mary war eine in jeder Hinsicht ungemein passende Verbindung, obwohl es Lydia und Friedrich auch sehr recht gewesen wäre, wenn Ernst sich für eine der Töchter aus den hanseatischen Familien oder deren Dependancen in der Welt entschieden hätte. Die Zehlendorps von der Ruhr, bisweilen Gusseisen-Zehlendorps genannt, waren keine Krupps, aber von solidem, tatsächlich verlässlicherem Reichtum und mit ihren Beteiligungen an einem der neuen Chemiewerke auch in einer echten Zukunftsbranche erfolgreich. Ihre Verbindungen nach Berlin waren beachtlich, insbesondere durch Ludwina Zehlendorp, die aus preußischem Landadel stammte. Wenn man allein die Entwicklung in Marine und Eisenbahn, auch in der Waffenindustrie bedachte …
So oder so, es war an der Zeit gewesen. Die Liaison mit der Tochter eines Uhrmachergesellen wurde damit beendet. Das Mädchen war sogar aus der Stadt verschwunden. Wie man hörte, betrieb sie nun ein florierendes Modegeschäft in einer kleinen Stadt nahe Manchester. Dort gab es viel neues Geld, also auch wohlhabende Frauen ohne Erziehung zu Stil und Geschmack, denen eine hanseatisch-diskrete Beratung
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