Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
Kränkeln, noch mehr nach ihrem Tod hatte sie verweigert, dass das Kind ihr Herz berührte, und als Henrietta ihrer Mutter immer ähnlicher wurde, hatte sie ihre Gegenwart noch schwerer ertragen und anderen überlassen, was ihre Aufgabe gewesen wäre. Nun hoffte sie brennend, es sei nicht zu spät, dies endlich zu ändern.
Niemand achtete auf die schmale Gestalt, die halb verborgen von den weinroten Portieren in der Tür stand, bis Felix ihre Gegenwart spürte und sich umwandte.
«Mary», rief er, «warum stehst du da so allein und kommst nicht zu uns?»
Er schritt rasch zu ihr, beugte sich zum Kuss über ihre Hand und zog sie in den Salon.
«Ihr habt sicher Wichtiges zu besprechen, da will ich nicht stören. Ich suche nur, ich meine, Lisette hat ihr Märchenbuch verloren, und ohne eine dieser Geschichten mag sie nicht einschlafen. Ich dachte, vielleicht hat sie es hiergelassen. Sie war doch heute hier? Am Vormittag?»
«Tatsächlich? Mir ist sie nicht begegnet, ihr Buch auch nicht», behauptete Emma. «Miss Studley kann doch sicher aus einem anderen vorlesen.»
«Ach, Emma.» Lydia erhob sich rasch aus ihrem Sessel, warf Emma, die schon zu einer ihrer stets ins Zentrum treffenden spitzen Bemerkungen ansetzte, einen Blick zu, der sie schweigen ließ, und nahm leicht Marys Arm. Erst jetzt gab Felix ihre Hand frei.
«Wir fragen Frau Grünberg», schlug Lydia vor. «Als eigentliche Herrin über dieses Haus und seine Dienstboten weiß sie alles, auch über verlorengegangene Märchenbücher. Seid ihr nicht heute Abend bei den Krugfelds zum Dinner?»
«O ja, Herr Mahler wird auch erwartet, es heißt, er werde in Begleitung eines Fräulein von Mildenburg kommen, sie ist für die neue Spielzeit am Stadttheater engagiert und soll einen engelhaften Sopran haben. Es war doch Sopran? Ja, Sopran. Ich hoffe sehr, sie werden so großzügig sein, für die Gäste zu musizieren. Wenigstens ein Lied.»
Plötzlich war alles an Mary lebendig und glühend. Vielleicht brauchte ihre nervöse Seele keinen Kuraufenthalt oder eine ausgedehnte Reise an die Côte d’Azur, sondern nur einen neuen Flügel und einen zartfühlenden Musiklehrer.
«Natürlich», sagte Ernst, «das Dinner. Ich habe es nicht vergessen. Wird die Zeit zum Umkleiden schon knapp?» Er warf einen Blick zur Standuhr. «Kein Frack heute, nicht wahr? Nur der Smoking. Hat Kilian alles herausgelegt?»
«Längst», sagte Mary. Felix grinste: «Smoking? Ich wusste gar nicht, dass mein großer Bruder der neuen legeren Mode folgt.»
Ernst lächelte.
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Kapitel 9
Donnerstag
S ehn Sie mal. Hier kann man nun von Kehle durchschneiden sprechen. Muss man sogar.» Dr. Winkler hob den Handrücken vor den Mund und gähnte herzhaft. Die Spitzen von Ring- und Mittelfinger waren blutig. «Sie müssen entschuldigen, Ekhoff, ich bin nicht so abgebrüht, wie es scheint, Mordopfer lassen mich nie gähnen. Aber unter meinen Patienten sind zwei Kinder mit Hirnhautentzündung, schreckliche Sache. Spät ins Bett und vor Sonnenaufgang wieder raus – für so was werde ich allmählich zu alt.» Er nahm den Zwicker von der Nase und rieb sich mit beiden Handballen die Augen, murmelte etwas, das nach «Starker Tee wär jetzt famos» klang, und beugte sich wieder über den Toten auf dem Straßenpflaster. «Ja, diesem armen Teufel hat einer die Kehle durchgeschnitten. Von links nach rechts. Umgekehrt, falls er Linkshänder ist, aber das ist ja selten. Wenn in der Anatomie das Blut abgewaschen ist, kann ich gewöhnlich erkennen, wie das Messer geführt wurde. So oder so gründliche Arbeit, tiefer Schnitt mit einer verdammt scharfen Klinge. Ekelhaft, was?»
Paul Ekhoff musste sich nicht näher zu dem Toten beugen, um zu sehen, was geschehen war. Er tat es trotzdem. Und begann prompt wieder zu frösteln, wie meistens, wenn er einem Gewaltopfer sehr nah kam. Manchmal schwitzte er dann auch. Aber viel seltener.
Im Osten ging jetzt die Sonne auf, der Tag war klar. Es würde noch ein wenig dauern, bis ihre Strahlen in die Straßen der Stadt leuchteten und die Kühle der Nacht vertrieben, Gassen wie diese erreichte nie ein Sonnenstrahl, sie waren zu schmal und zu tief. Immerhin wurde es nun auch hier rasch heller.
Der Doktor wischte seine Finger an einem Tuch ab, tastete über die Unterkiefer und den Nacken des Toten und nickte mit einem bestätigenden Brummen.
«Das dachte ich schon», erklärte er, «noch keine Totenstarre. Hören Sie? Ich habe Totenstarre gesagt und mir
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