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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Grimbert
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Tischgesellschaft für einen Abend, die schlimme Zeit zu erwähnen, und verbannt die Schatten vor die Tür.

Das Tragen des Sterns ist Vorschrift geworden. Eine Ohrfeige für Maxime, der denen, die er beschwichtigen wollte, nun nichts mehr entgegensetzen kann. Josephs Sorgen und die Befürchtungen der benachbarten Händler waren berechtigt. Die Aussicht, sich das gelbe Zeichen an die Brust heften zu müssen, macht alle seine Bemühungen zunichte, vereint ihn zwangsläufig mit einer Gemeinde, zu der er Abstand halten wollte. Schlimmer noch, Feinde sind nunmehr nicht nur die Besatzer, sondern seine eigenen Landsleute, die ihn zu den Geächteten zählen. Er beschließt einmal mehr, sich zu widersetzen, dieser Fetzen soll weder seine kostspieligen Anzüge beschmutzen noch seine Familie herabwürdigen. Das Verhältnis zu seinen Verwandten ist spannungsgeladen, Georges wirft ihm vor, sich zu verleugnen, Esther und er würden den Stern mit Stolz tragen, warum sollten sie sich seiner schämen? Jedes Gespräch mündet in einen neuen Streit. Joseph, der sich kaum getraut, das Wort an seinen Sohn zu richten, versucht manchmal, ihm begreiflich zu machen, welche Gefahr er damit für seine Frau und Simon heraufbeschwört. Maxime fegt diese Argumente wütend beiseite: Wozu sollte er sich Sorgen machen? Nichts verrate ihn den Blicken des Feindes. Hat er vielleicht eine Adlernase, krumme Finger oder ein fliehendes Kinn, wie sie den Parisern in der gräßlichen Ausstellung »Der Jude und Frankreich« im Palais Berlitz* vorgeführt werden, damit sie die Feinde Frankreichs besser erkennen können?
    Louise befolgt die Anordnung und trägt das Zeichen auf ihrer Brust. Sie fühlt sich nicht stark genug, sich dem zu entziehen, aber der Stern ist für sie eine noch größere Belastung als die schwere Sohle ihres orthopädischen Schuhs. Maxime besucht sie täglich, diskutiert mit ihr, erkundigt sich nach ihrer Einschätzung der Lage. Am liebsten hätte er ihr Kapitulation vorgeworfen, doch das gezeichnete Gesicht seiner Freundin hält ihn davon ab. Er kann nicht mehr zurück, als Ringer weiß er, wie nützlich für den Gegner auch nur eine Sekunde des Zögerns, ein Aufblitzen von Schwäche, eine unsichere Bewegung sein können. Vielleicht war diese Maßnahme das Zeichen, auf das er gewartet hat. Nun gilt es, mit Hannah und Simon auf die andere Seite der Demarkationslinie zu gelangen. Mehrmals spricht er mit Louise darüber. Aus Angst, es könnte zu gefährlich sein, versucht sie zuerst, ihn davon abzubringen, da er sich jedoch fest entschlossen zeigt, macht sie ihm einen Vorschlag: Eine ihrer Kusinen arbeitet im Rathaus von Saint-Gaultier, einer kleinen Gemeinde im Département Indre. Sie wird sie besuchen, um mit ihr die Ankunft seiner Familie vorzubereiten.
    Maxime ist überzeugt, daß es keinen anderen Ausweg gibt als die Flucht in die freie Zone. Am nächsten Sonntag bestellt er die Familie zu Georges, um die Meinung der anderen zu hören. Elise, die durch Marcels Familiennamen geschützt ist, will in Paris bleiben, die Versammlungen mit ihren politischen Freunden sind unverzichtbar für sie, sie wird beim Aufbau eines Widerstandsnetzes mitarbeiten. Georges und Esther erklären sich aus unterschiedlichen Gründen bereit zur Flucht:Er erträgt die vielen Entbehrungen nicht mehr, sie reizt der romanhafte Aspekt des bevorstehenden Abenteuers. Beide sind allerdings der Ansicht, die Männer sollten vorsichtshalber als Vorhut vorausgehen, zumal sie am meisten gefährdet seien. Wenn sie sich in Sicherheit befänden, könnten sie die anderen nachkommen lassen. Simon und seine Mutter würden die Reise als nächste antreten. Tania will Martha nicht allein zurücklassen, die unter der Trennung leiden würde. Auf alle Fälle könnten die Frauen einstweilen das Ladengeschäft hüten, bis auch sie sich in Begleitung von Louise auf den Weg nach Saint-Gaultier machen würden. Alle kommen überein, sich eine Woche Bedenkzeit zu nehmen.

    Ob Simon in dieser Zeit die Sorgen in ihren Blicken bemerkt hat? Er platzt in Gespräche herein, hört seine Eltern von einer bevorstehenden Abreise reden, zweifellos spürt er die Bestürzung seines Vaters, die Angst seiner Mutter. Dennoch dreht sich in der Familie weiterhin alles um ihn. Wie Maxime versteht er es, seine Wünsche mit einem bloßen Lächeln durchzusetzen, das Leben gehört ihm. Wenn er in seinem Viertel Nachbarn oder Fremden begegnet, die den Stern an der Brust tragen, will er nicht zurückstehen.

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