Ein Gentleman wagt - und gewinnt
erleben. Ich erhielt einige Einladungen heute Morgen …” Mit erhobenen Brauen schaute sie sich um. “Oh, ich glaube, ich habe sie im unteren Empfangszimmer vergessen … Wie zerstreut ich bin! Würdest du sie holen, Liebes? Die meisten sollte ich unverzüglich beantworten.”
Das ließ sich Abbie nicht zweimal sagen. Bereitwillig verschwand sie, bevor ihre Patentante den letzten Satz beendet hatte. Triumphierend lächelte Ihre Ladyschaft den Besucher an. “Nun? Worauf warten Sie? Allzu lange wird sie nicht brauchen, um festzustellen, dass ich sie umsonst nach unten geschickt habe.”
Eine weitere Aufforderung brauchte er nicht. Hastig verabschiedete er sich von der Hausherrin, eilte die Treppe hinab und sah Abbie den Raum betreten, in dem sie vor zwei Wochen mit Josh geredet hatten. Ohne Zögern folgte er ihr.
Als sie die Tür zufallen hörte, wandte sie sich erbost zu ihm um. “Was machen Sie hier? Trotz Ihres mangelnden Feingefühls müssten sogar Sie merken, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben.”
“Bitte, Abbie – ich möchte Ihnen versichern, wie sehr ich mein Verhalten gestern Abend bedauere.”
Damit nahm er ihr den Wind aus den Segeln. Allem Anschein nach hatte sie nicht mit einer Entschuldigung gerechnet. Glaubte sie, er wäre zu arrogant, um einen Fehler einzugestehen?
“Daran sind Sie nicht allein schuld”, erwiderte sie leise. “Auch mein Benehmen ließ zu wünschen übrig. Natürlich hätte ich Sie nicht schlagen dürfen.”
Gewiss, auf der Terrasse war er wütend gewesen. Aber jetzt erkannte er die Komik der Situation. “Erstaunlich, was für eine kraftvolle Rechte Sie haben, Ma’am … Danach hatte ich stundenlang Ohrensausen.”
Zu seiner Genugtuung lachte sie leise. “Jedenfalls hätte ich meinen Zorn zügeln sollen – wo Sie doch lediglich deswegen auf die Terrasse gekommen waren, um mich zu beschützen. Indes hätten Sie sich nicht bemühen müssen, Sir. Lady Penrose hatte mich bereits vor Mr. Asquith gewarnt. Und seien Sie versichert – ich bin kein naives Mädchen, das sich von einem hübschen Gesicht betören lässt. Außerdem kursiert das Gerücht, er sei auf der Suche nach einer reichen Erbin. Also wird er sich wohl kaum für mich interessieren.”
“Täuschen Sie sich nicht! Vielleicht hat er gestern Abend erfahren, dass Sie mit Colonel Augustus Graham verwandt sind. Und obwohl Ihr Großvater in den letzten Jahren nur selten an gesellschaftlichen Ereignissen teilnahm, ist die Öffentlichkeit über sein beträchtliches Vermögen informiert.”
“Was allerdings nicht allgemein bekannt ist”, entgegnete Abbie belustigt, “und was ich Mr. Asquith erzählen werde, falls er mir nachstellen sollte – Großvater hat angekündigt, mich zu enterben.”
Offensichtlich hatte Barton nichts von der Entfremdung zwischen dem Colonel und seiner Enkelin gewusst. Das bezeugte seine entgeisterte Miene deutlich genug. “Von diesem Unsinn glaube ich kein Wort! Mein Patenonkel betet Sie an!”
“Ob Sie es für bare Münze nehmen oder nicht …” Blicklos schaute sie aus dem Fenster. “Es ist die reine Wahrheit. Schon seit Jahren verstehe ich mich nicht mehr mit ihm. Und daran wird sich gewiss nichts ändern.”
“Warum, Abbie? Wie kam es zu diesem Zwist? Sie beide standen einander so nahe!”
“Ja, früher”, bestätigte sie nach einem kurzen Kampf mit ihrem Gewissen. Sollte sie verraten, was geschehen war? Nun, irgendwann würde er es ohnehin herausfinden. “Bedauerlicherweise konnte mir der Colonel nicht verzeihen, dass ich mich weigerte, Sie zu ehelichen, Sir.”
Als sie keine Antwort hörte, drehte sie sich um und blickte ihn an. Er starrte zu Boden. Der Ausdruck seiner Augen blieb verborgen, bis er den Kopf hob. Und da bekundete seine Miene unendlich tiefen Kummer, der an Verzweiflung grenzte.
“Daran liegt es also”, seufzte er leise. “Deshalb zürnen Sie mir. Gewiss, Abbie, Sie haben allen Grund, mich zu hassen.”
Voller Mitleid wollte Abbie zu ihm eilen und ihn umarmen. Aber sie bezähmte die Regung. “Oh nein, Barton, ich hasse Sie keineswegs”, widersprach sie mit sanfter Stimme. “Während der letzten Wochen gab es sogar Momente, da ich mich zu Ihnen hingezogen fühlte. Andererseits – das will ich nicht leugnen – war ich manchmal auch verbittert. In meiner Kindheit ärgerte ich mich, weil Großvater so viel von Ihnen hielt. Und ich nahm ihm übel, dass er meine Gefühle ignorierte, als er diese lächerliche Heirat zu erzwingen suchte.”
Die
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