Ein Gentleman wagt - und gewinnt
sah sie nicht mehr, denn sie war bereits auf dem Weg in den Salon.
6. KAPITEL
S eufzend starrte Lady Penrose in die Schachtel, die neben ihrem Sessel auf einem Tischchen stand. Um nicht hineinzugreifen und das köstliche Konfekt zu probieren, musste sie ihre ganze Willenskraft aufbieten. Welch einen erstaunlichen Einfluss meine Patentochter auf mich ausübt, entschied sie. Seit Abbies Ankunft flanierte Ihre Ladyschaft viel öfter zu Fuß durch die Stadt. Und an manchen Tagen verzichtete sie sogar auf ihren geliebten Portwein. Außerdem hatte sie den Konsum verlockender Schokolade und süßer Biskuits beträchtlich reduziert und demzufolge einige Pfunde abgenommen. Nun fühlte sie sich wesentlich besser. Sie hoffte nur, dass Abigail ihren Aufenthalt in Bath genauso genoss, wie
sie
davon profitierte.
Oh, gewiss, das Mädchen wirkt recht zufrieden, dachte Ihre Ladyschaft, ließ den Kopf gegen die Rückenlehne ihres Sessels sinken und betrachtete geistesabwesend den Stuck an der Zimmerdecke. Aber Zufriedenheit war nicht das Gleiche wie Glück. Und genau das verdiente Abbie nach allem, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hatte.
Wieder einmal ärgerte sie sich über Colonel Graham, der seine Enkelin so ungerecht behandelte, ohne Rücksicht auf ihre Wünsche und Gefühle. Andererseits hatte Lady Penrose die Überzeugung gewonnen, dass sein Patensohn genau der richtige Mann für Abbie war. Wenn die junge Dame ihre verständliche Abneigung überwand, würden die beiden großartig zueinander passen. Ohnehin hatten sie viel mehr gemein, als sie ahnten. Eins stand jedenfalls fest – Abigail schreckte nicht davor zurück, diesem Gentleman die Meinung zu sagen. Und gerade deshalb bewunderte er sie.
Doch wenn Ihre Ladyschaft sich nicht gewaltig täuschte, hatte die Beziehung zwischen ihrer Patentochter und Mr. Cavanagh am vergangenen Abend einen beklagenswerten Rückschlag erlitten. Seufzend erinnerte sie sich, wie sich Bartons Miene verfinstert hatte, nachdem dieser hübsche Taugenichts, Mr. Asquith, Abigail auf die Terrasse gefolgt war. Darüber hatte sie selbst sich auch nicht gefreut, war indes sicher gewesen, die vernünftige Abbie würde sich nicht von der attraktiven äußeren Erscheinung des jungen Mannes blenden lassen. Andererseits wollte sie bösartigen Klatschmäulern das Handwerk legen. Und so beschloss sie einzugreifen. Leider kam Mr. Cavanagh ihr zuvor. Mit langen, energischen Schritten eilte er zu einer der Fenstertüren.
Was draußen geschehen war, bevor Mr. Asquith in den Salon zurückkehrte, konnten die neugierigen Beobachter nur vermuten. Immerhin hatten die schlechte Laune des Gastgebers und Abigails erzwungene Fröhlichkeit während der restlichen Soiree den Eindruck erweckt, auf der dunklen Terrasse müssten ungehörige Dinge passiert sein.
Es klopfte leise, dann betrat die Haushälterin den Raum und holte ihre Herrin in die Gegenwart zurück. Wie sich Lady Penrose vage entsann, war vorhin der Türklopfer ertönt – offensichtlich der Grund für die Störung.
“Da ist Besuch für Miss Abbie gekommen, Mylady. Wann sie zurückkehren wird, weiß ich nicht. Soll ich Mr. Cavanagh mitteilen, sie sei nicht daheim?”
“Nein …” Lady Penroses Gedanken überschlugen sich. “Führen Sie ihn herauf … Oh, Mrs. Bates – sobald meine Patentochter wiederkommt, soll sie mich bitte aufsuchen. Dass ich einen Gast habe, brauchen Sie nicht zu erwähnen.”
Zweifellos würde die treue Bedienstete diese Anweisungen befolgen. Sehr gut, überlegte Ihre Ladyschaft, denn Abbie würde den Salon höchstwahrscheinlich wie die Pest meiden, wenn sie den Namen des Besuchers erfuhr. Und das wäre bedauerlich, denn Mr. Cavanagh hatte ohne Zweifel die Absicht, sich mit ihr zu versöhnen.
Das stimmte nur teilweise, denn Barton plante zwar tatsächlich, der jungen Dame einen Olivenzweig anzubieten – aber er wollte auch herausfinden, warum sie ihn verachtete.
Die ganze Nacht hatte er blicklos in den Baldachin über seinem Bett gestarrt und sich jede einzelne Begegnung, die er mit Abbie in Bath gehabt hatte, ins Gedächtnis gerufen – vor allem den letzten Abend.
Nachdem er seinen Zorn über die Ohrfeige überwunden hatte, war ihm einiges klar geworden. Er hätte ihr Verhalten nicht kritisieren dürfen, obwohl er sich verpflichtet fühlte, in der Abwesenheit ihres Großvaters die Rolle eines Beschützers zu übernehmen.
Was den Rest des Zwischenspiels auf der Terrasse betraf – da bereute er gar nichts.
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