Ein Gentleman wagt - und gewinnt
fragte er betont beiläufig.
“Doch, ich wollte nur ein wenig frische Luft schnappen.”
Ihre Worte überzeugten ihn nicht, indes wollte er sie nicht bedrängen, denn das Gespräch konnte von Gästen belauscht werden, die die Kieswege entlangschlenderten. Zudem fiel es ihm schwer, seine Gedanken von jener anderen Begegnung auf einer dunklen Terrasse abzulenken. Dort waren sie allein gewesen, und ein heißes Verlangen hatte seine Selbstkontrolle besiegt. Niemals würde er vergessen, wie süß und hingebungsvoll sie seinen Kuss erwiderte – und ihn dann so schroff abgewiesen hatte. Ein Wunder, dass sie seine Nähe überhaupt noch ertrug – aber vielleicht hatte sie Vertrauen zu ihm gefasst und sah einen Freund in ihm.
“Was führt Sie hier heraus, Barton? Finden Sie die Pflichten eines Gastgebers lästig?”
“Oh nein, ich genieße den Abend.” Er trat an ihre Seite, und zu seiner Freude wich sie nicht vor ihm zurück. “Dank Ihrer und Kittys unermüdlicher Arbeit, die dieses Fest erst ermöglicht haben. Wenn meine Schwester und ihre Mutter aus Brighton zurückkehren, sollten wir solche Gesellschaften öfter veranstalten.”
Er hatte erwartet, dass Abbie ihm zustimmte. Stattdessen runzelte sie die Stirn. “Gibt es einen Grund, warum Sie in den letzten Jahren darauf verzichtet haben? Ich finde Ihre Nachbarn sehr nett und sympathisch.”
“Das sind sie. Indes muss ich gestehen, ich habe mich vor allem mit der Verwaltung des Landguts befasst und kaum an etwas anderes gedacht. Natürlich hätte ich mich mehr um Kitty und Eugenie kümmern müssen – da war ich wohl etwas zu selbstsüchtig.”
“Unsinn, Sie sind nicht selbstsüchtig, Barton”, widersprach sie leise. “Manchmal ein bisschen … gedankenlos. Aber nicht egoistisch.”
Nur die Furcht, das beglückende Einvernehmen dieses Beisammenseins zu gefährden, hinderte ihn daran, Abbies verlockende Lippen zu küssen. Gewiss war Freundschaft ein armseliger Ersatz für seine wahren Wünsche. Trotzdem musste er die bedrückende Möglichkeit akzeptieren, dass sie ihm vielleicht niemals viel mehr bieten würde.
“Wenn Sie sich erholt haben – darf ich Sie in den Salon zurückführen, bevor unsere Abwesenheit auffällt?”, fragte er und trat ein wenig zurück. Ihre Nähe stellte seine Selbstbeherrschung auf eine zu harte Probe.
Bereitwillig nickte sie, doch ehe sie seinen dargebotenen Arm nahm, glaubte er einen Anflug von Enttäuschung in ihren Zügen zu lesen. Oder hatte er sich getäuscht?
An die schwache Hoffnung, dass eines Tages vielleicht mehr aus der Freundschaft würde, klammerte er sich den ganzen restlichen Abend. Sie beflügelte ihn sogar so weit, dass er sich recht gut amüsierte. Aber er empfand kein Bedauern, als er die letzten Gäste verabschiedete. Danach suchte er den einzigen Menschen auf, dem er seine Probleme anvertrauen konnte.
“Hast du Lust auf einen Schlummertrunk in der Bibliothek, Giles? Oder möchtest du dir ein Beispiel an den Damen nehmen und dich zur Ruhe begeben?”
Nur zu gern begleitete Giles seinen Freund. “Immer wieder erstaunst du mich, alter Junge”, gestand er, nahm ein Glas Brandy entgegen und beobachtete, wie Barton ihm gegenüber in einen Sessel sank. “Obwohl ich stets das Gefühl hatte, dass gesellschaftliche Ereignisse dir wenig bedeuten, warst du heute Abend ein perfekter Gastgeber.”
Lächelnd blickte Barton in sein Glas. “Ich bin toleranter mit meinen Mitmenschen geworden.”
Fragend hob Giles die rotblonden Brauen. “Um die Quelle dieses segensreichen Einflusses aufzuspüren, muss ich nicht lange suchen.”
Dazu gab Barton keinen Kommentar ab. Abrupt wechselte er das Thema. “Ich wünschte, du könntest länger in Cavanagh Court bleiben. Natürlich weiß ich, warum du schon morgen abreisen musst. Wie lange wirst du dich bei deinem Onkel aufhalten?”
“Bis zum bitteren Ende.” Giles’ Mine verdüsterte sich. “Leider wird er nicht mehr lange bei uns weilen, höchstens noch ein paar Wochen. Und die möchte ich bei ihm verbringen. Immerhin bin ich sein nächster Verwandter und sein Erbe.”
Da Barton seinen Freund seit der Kindheit kannte, wusste er, dass Giles niemals den Wunsch empfunden hatte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und Jura zu studieren. Stattdessen war er zur Armee gegangen, in der Gewissheit, eines Tages die Ländereien seines Onkels in Somerset zu erben. Er hatte dem alten Gentleman stets sehr nahegestanden.
“Sicher wirst du ihn vermissen, Giles, das
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