Ein Gentleman wagt - und gewinnt
den taumelnden Josh. “Schauen Sie hinter sich!”
Sekundenlang schien er sie gar nicht wahrzunehmen. Dann drehte er sich um und entdeckte die zusammengerollte zerschmetterte Schlange am Rand der Wolldecke. “Heiliger Himmel!”, flüsterte er, ließ Josh los und umklammerte Abbies Arm so fest, dass sie beinahe stöhnte. “Wurden Sie gebissen?”
“Nein”, versicherte sie, “und das verdanke ich Josh. Ich habe die Schlange gar nicht gesehen.”
In Bartons Miene zeigte sich nicht die geringste Zerknirschung. Aber er reichte dem Reitknecht die Hand und entschuldigte sich bei ihm.
Statt gegen die ungerechte Behandlung zu protestieren, grinste Josh schief und rieb sich das bereits sichtlich angeschwollene Kinn. “Das war ein ziemlich kräftiger linker Haken, Mr. Cavanagh. Wahrscheinlich haben Sie im Boxring Erfahrungen gesammelt.”
Barton gab keine Antwort und lächelte nur ausdruckslos. Dann wandte er sich wieder zu Abbie und musterte ihr blasses Gesicht. In dem übermächtigen Bedürfnis, sie zu beschützen, umschlang er ihre Schultern und zog sie an seine Brust. Sie zitterte am ganzen Körper, viel zu schwach, um sich aus der sanften Umarmung zu befreien.
“Seien Sie so freundlich und kümmern Sie sich um die Sachen Ihrer Herrin, Josh”, bat Barton, “wir sprechen uns später.” Dann führte er Abbie langsam in Richtung Haus. “Es tut mir leid. Nun müssen Sie mich für einen kompletten Idioten halten, nachdem ich grundlos über den armen Kerl hergefallen bin.”
“Oh nein, Sie konnten ja nicht sehen, wonach er schlug.” Ein Schauer rann ihr über den Rücken. “Sie glaubten, er würde mir etwas antun wollen. Wie, um alles in der Welt, kamen Sie auf diese Idee?”
“Keine Ahnung, Abbie”, gestand er beschämt. “ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Und nach dem, was Giles mir gestern Abend vor Augen hielt …”
“Was hat er gesagt?”, erkundigte sie sich, als er verstummte. Sie blieb stehen und schaute Barton prüfend an. “Hat er etwa behauptet, Josh wäre für die Zwischenfälle in der letzten Zeit verantwortlich?”
“Nein …” Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: “Aber er meinte, die Angriffe hätten möglicherweise nicht mir gegolten, sondern Ihnen.”
“Was?”, fragte sie entgeistert. “Hat Giles den Verstand verloren? Was für eine lächerliche Vorstellung! Wer hätte ein Interesse daran, mir zu schaden?”
“Das habe ich mich auch gefragt.” Sie gingen zu einer schattigen Steinbank, setzten sich, und Barton ergriff Abbies Hand. “Vielleicht weiß irgendwer, dass der Colonel gedroht hat, Sie aus seinem Testament zu streichen. Gibt es jemanden, der davon profitieren könnte – dem es einen Vorteil brächte, wenn Sie unfähig wären, den Herzenswunsch Ihres Großvaters zu erfüllen?”
Nur zu gut verstand sie, was er meinte. “Indem er meinem Leben ein Ende setzt … Also muss ich mich vor demjenigen hüten, der den Colonel beerben würde, wenn ich nicht mehr existiere.”
“Offen gestanden, ja.”
Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass ihr Großvater die Absicht geäußert hatte, seine Reise nach Schottland für ein paar Tage in Yorkshire zu unterbrechen und seinen Neffen zu besuchen, Sir Montague Graham. Womöglich hatte der Colonel ihm anvertraut, wie sehr ihm das Verhalten seiner Enkelin missfiel. Trotzdem hielt Abbie es für ausgeschlossen, dass ein ehrenwerter Gentleman wie ihr Onkel Montague jemanden beauftragt haben könnte, sie aus dem Weg zu räumen. Darauf wies sie Barton in aller Entschiedenheit hin. “Abgesehen von der Drohung, mir nichts zu hinterlassen, hat der Colonel mich niemals über den Inhalt seines Letzten Willens informiert. Aber er gab mir auch keinen Grund zu der Annahme, er würde ein anderes Mitglied der Familie Graham bedenken.”
“Nicht einmal seinen Neffen Montague?”, fragte Barton erstaunt.
“Natürlich hat Großvater ihn sehr gern. Monty ist ein netter, vernünftiger Mann, glücklich verheiratet und gut situiert. Den Großteil des Jahres verbringt er mit seiner Frau und den Kindern in Yorkshire. Soweit ich weiß, besucht er nur ganz selten die Hauptstadt. Und er neigt gewiss nicht dazu, sein Geld am Spieltisch zu verschwenden.”
Barton runzelte so enttäuscht die Stirn, dass sie lächeln musste.
“Seien Sie versichert”, fuhr sie fort, “wäre Monty in finanziellen Schwierigkeiten, würde er seinen Onkel um ein Darlehen bitten und nicht danach trachten, mich zu beseitigen. Letzteres würde ihm ohnehin nichts
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